Eine Universität als Raum
Eine Universität als Raum zu thematisieren ist kein einfaches, aber ein lohnenswertes Unterfangen. Es zwingt zunächst zur Auseinandersetzung mit ‚dem Raum’, was wiederum produktive Perspektiven eröffnet. Dafür wird die Universität Luxemburg nicht von außen beobachtend beleuchtet, sondern von innen heraus aufgerollt. Somit wird sie als performativer Raum gefasst, der aus dem Zusammenspiel von Praktiken, Zuschreibungen und Materialitäten hervorgeht. Dieses Vorgehen lehnt an die Überlegungen des französischen Soziologen Henri Lefebvre an, der nicht nach gegebenen räumlichen Gefäßen fragt, sondern nach den sozialen Produktionsprozessen von Raum. Analytisch unterscheidet er zwischen dem von Planern konzipierten Raum (espace concu), den von Universitätsangehörigen tatsächlich praktizierten (espace perçu) und erlebten Raum (espace vecu). Daran anknüpfend werden die aktuellen Standorte der Universität Luxemburg – Limpertsberg, Walferdange, Kirchberg und Belval – abgeschritten und schlaglichtartig beleuchtet, was den Raum ‚Universität’ in Luxemburg heute und damals konstituiert(e).
Der Campus Walferdingen war ursprünglich als Pferdegestüt konzipiert, das der erste Großherzog Luxemburgs im Jahr 1817 bauen und ca. zwanzig Jahre später zu einer königlichen Residenz erweitern ließ. Im sogenannten Walfer Schlass lebte Prinz Heinrich bis 1879, woran heute das nahegelegene Stade Prince Henri in Walferdingen erinnert. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts diente das Schloss weiter als Sommerresidenz, bis das Gelände in immer kürzeren Abständen neue Bestimmungen erfuhr: Im Ersten Weltkrieg fand hier die evakuierte Stadtbevölkerung Schutz, von 1930 bis 1944 wurde hier eine Ecole normale des institutrices betrieben und schließlich wurde das Schloss vorübergehend von amerikanischen Truppen besetzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg richtete das luxemburgische Militär eine Kaserne ein, bis der Großteil des Walfer Schlass ab 1967 vom Institut Supérieur d’Etudes et de Recherches Pédagogiques für die Lehrerausbildung genutzt wurde. Im Jahr 2003 schließlich zogen die ersten Wissenschaftler der Universität Luxemburg auf dem Gelände ein.
Wie der Campus – auf dem bereits Pferdeburschen, Prinzessinnen und Soldaten ein und aus gingen – heute von Wissenschaftlern er-/gelebt wird, kann nur exemplarisch beleuchtet werden. Ein Beispiel sind Kolloquien und wissenschaftliche Tagungen, die mit Pierre Bourdieu als Arenen der akademischen Streitkultur verstanden werden können. Der französische Soziologe vergleicht sie mit dem Boxsport: Wie das Zusammenspiel von Abwehrreaktionen, Antäuschungen, Kontern und Treffern beim Boxen, erfordert auch die akademische Streitkultur die „Kunst der Zweideutigkeiten, Unterschwelligkeiten und Doppelbedeutungen beim Umgang mit körperlichen und sprachlichen Symbolen.“ (Bourdieu 1993: 148) Besonders geschickt zeigen sich Wissenschaftler, die im Wettstreit „die objektiv richtige Distanz wahren, Verhaltensweisen zeigen […], die uneindeutig sind, d.h. beim geringsten Anzeichen von Ablehnung oder Zurückweisung widerrufen werden können und beim anderen Ungewißheit über die stets zwischen Hingabe und Distanz, Engagement und Gleichgültigkeit schwankenden eigenen Absichten fortbestehen lassen.“ (Bourdieu 1993: 148) Dieses soziale Spiel, das durch Stellenbefristungen, Evaluierungsbuchhaltung und Citation Index deutlich an Hingabe und Engagement verloren hat, ist ungleich schwieriger, wenn verschiedene Disziplinen in mehreren Sprachen gewinnbringend miteinander streiten.
Wenn auch knapp ein Jahrhundert später erst erbaut, haben sich die Bestimmungen des Standorts Limpertsberg mindestens ebenso oft wie in Walferdingen gewandelt. Der heutige Campus wurde 1903 als Franziskanerinnenkloster erbaut, wobei das Gebäude im neoromanischen Stil schon im Ersten Weltkrieg den deutschen, dann den französischen Truppen als Unterkunft diente und 1919 in eine Lehrerinnennormalschule umgebaut wurde. Mit dem Einzug eines Priesterseminars im Jahr 1926 wurde der Standort vergrößert. Die Seminaristen mussten aber wieder weichen, als hier im Zweiten Weltkrieg ein deutsches Militärhospital und 1944 die amerikanischen Truppen einzogen. Ab 1946 wurde das Gebäude wieder als Priesterseminar genutzt und 1956 die beeindruckende Kapelle neugestaltet, in der auch die Bibliotheken der Folgeinstitutionen untergebracht waren. So war in dem Gebäude ab 1969 das Centre Universitaire de Luxembourg mit seinen humanwissenschaftlichen Abteilungen angesiedelt, das in den 1990er Jahren um das Bâtiment des Sciences erweitert wurde. Im Jahr 2003 schließlich zog die Universität auf dem Gelände ein und beherbergt dort bis heute die Zentralverwaltung und die Fakultät für Rechts-, Wirtschafts- und Finanzwissenschaften.
Von den hier nur angerissenen ‚räumlichen Umdeutungen’ des parkähnlichen Campus zeugen noch Gewehrhülsen, die gelegentlich in den Kellergewölben des Standorts gefunden werden. Sie lassen erahnen, wie das Gelände einmal er-/gelebt wurde und so bestimmte Räumlichkeiten erzeugt wurden. Heute entstehen Räumlichkeiten auf dem Campus neben Verwaltungs- und Governancepraktiken vor allem durch Wissenspraktiken, etwa wenn sich Studierende und Dozenten in einem der Hörsäle des Bâtiment des Sciences versammeln. Der Hörsaal ist auf eine bestimmte Praxis des Wissenstransfers ausgelegt: steile Bestuhlung, Schreibflächen, Tafel, Projektionsfläche, Beamer, Beleuchtung, Pult, Mikrofon und Lautsprecher geben geradezu die für Vorlesungen typische Frontalansprache vor und befördern die einseitige Kommunikation. Der Hörsaal als räumliche Anordnung leistet, dass die Sitzenden den Redner gut hören („Auditorium“), ein ungestörtes Blickfeld haben, ihre Aufmerksamkeit auf die ‚Bühne des Dozierenden’ richten („Amphithéâtre“) und dass der Redner viele Zuhörer auf einmal erreicht. Mit der physisch-materialen Anordnung sind also bestimmte Zwecksetzungen verbunden, die sich – ähnlich wie die akademische Streitkultur – auch in einem gewissen Verhaltenscodex widerspiegeln. Er regelt das Er-/Leben von Hörsälen, er bietet aber auch Spielräume: z.B. den Seiteneingang für zu Spätkommende oder das – je nach akademischer Kultur – an der Universität Luxemburg wahlweise Klatschen oder Klopfen der Studierenden am Ende einer Vorlesung.
Im Vergleich zu den Standorten Walferdingen und Limpertsberg hat der Campus Kirchberg eine weniger bewegte Geschichte. Konzipiert für die Hochschulausbildung wurde er erst 1976 eröffnet und beherbergte bis 2003 das Institut Supérieur de Technologie mit seinen technischen Lehrangeboten. Seit 2003 ist auf dem Campus die Fakultät für Naturwissenschaften, Technologie und Kommunikation angesiedelt, womit die originär technische Ausrichtung des Standorts fortgeschrieben wird. Dies wird bereits in den langen Fluren der Campusgebäude deutlich, wo Baustoffe, Werkzeuge oder T-Träger zur Anschauung ausgestellt sind. Ein Techniker berichtet, wie er diesen Raum im Alltag er-/lebt: Vor wenigen Tagen durfte er einen Versuch für einen Doktoranden aufbauen. Im Labor – das im Grunde wie eine große Bauwerkstatt aussieht – wurde die Testwand mit einem Kran hochgezogen, später dann wurde sie schrittweise mit bis zu 240 Tonnen belastet; die entstandenen Risse wurden schließlich dokumentiert und ausgewertet. Der Techniker fügt hinzu: richtig spannend wird es nur bei Versuchen mit Stahl und Beton – dann kracht es auch mal richtig bei den Belastungstests.
Eine andere Wissenspraktik auf dem Campus Kirchberg erschließt Robert Schmidt, wenn er sich der physisch-materialen Analyse des Programmierens zuwendet: „Am Programmieren sind beispielsweise Finger beteiligt, die mit einem Bleistift spielen, auf der Schreibtischplatte trommeln, über die Tastatur wandern und hin und wieder etwas auf einem Blatt Papier notieren, Hände, die einen Kopf stützen, ein Oberkörper, der zum Bildschirm hin ausgerichtet ist, Augen, die Codezeilen überwachen etc. Darüber hinaus wirken Computer, Server, Datenübertragungsinfrastruktur, Entwicklungs-Software, Computer-Mäuse, Bildschirme, Tastaturen und Gegenstände, die man gewöhnlich in Büros vorfindet, mit: Schreibtische, Bürostühle, Teppichböden, Konzeptpapier, Kugelschreiber und Ähnliches.“ (Schmidt 2012: 115) So wie die Wissenspraktik des Programmierens unter physisch-materialen Gesichtspunkten häufig übersehen wird, kommt auch dem Rechenzentrum oft nur wenig Aufmerksamkeit zu. Dieser Ort scheint im Nirgendwo zu liegen und wird erst im Pannenfall sichtbar: wenn Kulturwissenschaftler plötzlich nicht mehr Textstrukturen visualisieren und Diskurslinien aufdecken können oder Naturwissenschaftler plötzlich nicht mehr Moleküle modellieren und dreidimensional darstellen können. Die latente Unsichtbarkeit von Rechenzentren erklärt sich, da sie im Gegensatz zu Laboren, Werkstätten oder Bibliotheken keine Präsenzorte des Forschens bilden. Denn Rechenzentren werden von den meisten Wissenschaftlern nicht ‚bewohnt’, vielmehr bleiben die Wissenspraktiken vom maschinellen Rechnen räumlich getrennt. (vgl. Palfner, Sonja / Gramelsberger 2012)
In Belval werden in den nächsten Jahren die noch räumlich verteilten Einrichtungen der Universität – bis auf einige Ausnahmen – zentral zusammengelegt. Die Entscheidung für diesen Standort fiel zum Jahresende 2005 mit der raumordnerischen Überlegung, die übliche Konzentration von wichtigen Institutionen in der Hauptstadt aufzubrechen und den Süden des Landes weiter aufzuwerten. Diese Entscheidung hat aber auch – und vielleicht vor allem – Symbolcharakter: die Universität auf einer ehemaligen Industriebrache steht für einen erneuten Aufbruch des Landes. Die darin angelegte Erwartung, eine kreative Elite auszubilden und intellektuelles Potenzial ins Land zu holen, materialisiert sich dort eindrucksvoll, wo bis Anfang des letzten Jahrhunderts noch das Mineralwasser Bel-Val erfolgreich abgefüllt wurde und ab 1912 die luxemburgische Stahlindustrie (großregionale) Sozial- und Wirtschaftsgeschichte schrieb. Krisenbedingt wurden die Hochöfen in den 1990er Jahren wieder stillgelegt und die luxemburgische Regierung erklärte die Konversion des teilweise noch in Betrieb gewesenen Geländes zur Chefsache. So entstehen nun auf der größten Baustelle des Landes moderne Gebäude mit gläsernen Fassaden zum Arbeiten, zum Wohnen und zur Freizeitgestaltung. Die schon in weiten Teilen errichtete Cité des Sciences ist dabei nicht wie eine klassische Universität konzipiert als ‚universitäre Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden’ (universitas magistrorum et scholarium), sondern als eine urbane Gemeinschaft der in Belval Arbeitenden, Wohnenden und Konsumierenden. Wissenschaft wird hier also integriert in städtisches Leben und damit die Universität zu einem attraktiven Ort gemacht – so die Raumkonzeption der Planer.
Die bereits fertig gestellten Gebäude des Campus Belval wurden schon von Wissenschaftlern bezogen. Darunter auch solche, die täglich mit Objekten und Apparaturen zu tun haben, experimentell arbeiten und somit die als Labore bezeichneten Orte erst hervorbringen. Naturwissenschaftliche Labore faszinieren schon seit den 1980er Jahren als Räume wissenschaftlicher Praxis: Sozialwissenschaftler, wie z. B. Bruno Latour, untersuchen seitdem das Laboratory Life und beobachten (kritisch) das Entdecken, Erfinden und Konstruieren von Natur. Sie betrachten „Labor und Experimentalsystem zusammen [als] ein historisch spezifisches Ensemble aus Menschen und Dingen, aus Wissenspraktiken und institutionalisierten Rahmungen […], in welchem wissenschaftliche Tatsachen hervorgebracht werden.“ (Palfner 2012: 160)
Während die modernen Labore am Standort Belval in der Regel als produktive Orte gelten, sind die auf dem neuen Campus geplanten Lounges vermutlich als Rückzugsgebiete zum Nichtstun konzipiert. Abgesehen von der grundsätzlichen produktiven Kraft des Nichtstuns können Lounges jedoch außerordentliche Orte der Wissensproduktion sein: Als Rückzugsgebiete zum ungestörten Arbeiten und kreativen Denken bilden sie raumzeitliche Inseln des intellektuellen Laborierens. Ob die geplanten Lounges einmal zu den Orten wissenschaftlicher Praxis gezählt werden können – oder ob sie in ihrer jeweiligen physisch-materialen Verfasstheit lediglich als Warte-, Erlebnis- oder Ruheräume fungieren – wird sich erst erweisen, wenn der Campus Belval tatsächlich von den Wissenschaftlern und Studierenden er-/gelebt wird.
Über die absolvierte ‚Raumfahrt’ zu den verschiedenen Standorten wurden in diesem Beitrag verschiedene Orte der Universität Luxemburg schlaglichtartig beleuchtet. Mit den gewählten Innenansichten und dem produktiven Nachspüren des Zusammenwirkens von konzipiertem, er-/gelebtem und physisch-materialem Raum wurden zum Teil schon in Vergessenheit geratene und/oder die im Lehr- und Wissenschaftsbetrieb wenig beachteten Räumlichkeiten zugänglich. Die Auswahl der betrachteten Orte und Wissenspraktiken wäre aus Sicht von Studierenden oder Kollegen sicher eine andere gewesen. Im Ergebnis jedoch hätten alle dieselbe Schlussfolgerung gezogen: Der Raum ‚Universität’ ist nicht beschreibbar als ein fixes dreidimensionales Behältnis mit festen Außengrenzen, sondern vielmehr als ein veränderbares und sich stets neu erfindendes Geflecht aus Normierungen, gelebten Wissenspraktiken und physisch-materialen Arrangements.
Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt/M., Suhrkamp, 1993.
Latour, Bruno/Woolgar, Steve: Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts. Princeton, Princeton University Press, 1986.
Lefebvre, Henri: The Production of Space, Oxford: Blackwell, 1991.
Palfner, Sonja: Labor. In: Marquardt, Nadine/Schreiber, Nadine (Hg.): Ortsregister. Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart. Bielefeld, transcript, 2012, S. 160-165.
Palfner, Sonja / Gramelsberger, Gabriele: Rechenzentrum. In: Marquardt, Nadine/Schreiber, Nadine (Hg.): Ortsregister. Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart. Bielefeld, transcript, 2012, S. 231-235.
Schmidt, Robert: Soziologie der Praktiken. Konzeptionelle Studien und empirische Analysen. Frankfurt/M., 2012.