Großregion revisité
Fast ein Drittel der Europäer lebt in Grenzregionen und profitiert vom europäischen Projekt: Abbau der Grenzkontrollen, EU-Binnenmarkt, Euroeinführung, grenzüberschreitende Zusammenarbeit usw. Diese Entwicklung hat nationale Grenzen durchlässiger gemacht und den nationalen Raum als Bezugspunkt relativiert. Der anhaltende Entgrenzungsprozess hebt Raum jedoch nicht auf, sondern eröffnet neue Arenen des Raumgreifens. Was aber ist unter Raum zu verstehen und wie verhält er sich in Grenzregionen?
Die Deutung von Raum ist zunächst sehr einfach, wenn er anhand bestimmter Merkmale einer Landschaft bestimmt wird. Etwa, wenn Malte Helfer (in diesem Buch) die Großregion als einen Wirtschaftsraum skizziert, der auf dem Steinkohlenbergbau basierte. Ebenso wird ein Merkmal der Gegend aufgegriffen, wenn der „blaue Hirsch“ im Rahmen von „Kulturhauptstadt 2007“ die weiten Waldflächen in der Großregion und die Migration von Ideen symbolisiert. Eine andere Raumvorstellung wird mit einem Gedankenexperiment anschaulich: Was bleibt übrig, wenn der Raum ausgeräumt wird? Der Raum selbst. Die Großregion wäre hier als ein Gefäß anzunehmen, das auch ohne irgendeine Ausgefülltheit existiert. Dieser Idee am nächsten kommt die Institutionalisierung der Großregion im Rahmen des Gipfels oder anderer Strukturen der regionalpolitischen Zusammenarbeit. Ihre Mandatsgebiete definieren die Ränder des ‚Behälters Großregion’. Wird er auf den Kopf gestellt, purzelt das, was darin ist, heraus.
Kann es Großregion ohne Füllung geben? Oder ist es vielmehr die Füllung, die die Großregion ausmacht? So gesehen kann sie als Beziehungsgeflecht bestimmt werden. Dabei geht es um verstreute Orte, deren Beziehungen untereinander eine räumliche Struktur bilden. So wird die Großregion gerne visionär als polyzentrische Metropolregion gedacht, in der das Zusammenwirken verschiedener strategischer Orte einen attraktiven Raum konstituiert. Das Zusammenwirken von Industriestandorten und Rohstoffvorkommen hatte auch Hubertus Rolshoven vor Augen, als er unter dem Eindruck des Montandreiecks im Jahr 1969 den Begriff SaarLorLux-Region prägte.
Die Großregion erschöpft sich aber nicht in der bloßen Beschreibung von markanten Merkmalen, Orten und ihren Beziehungen untereinander, sie findet auch in den Köpfen der Menschen statt. So können über mentale Bilder bestimmte Erlebnisräume zu Tage gefördert werden. Etwa, wenn Eva Mendgen (in diesem Buch) auf ihrer „Grand Tour“ zum Streifzug durch Orte und Landschaften einlädt, die sich beim Leser oder Reisenden zu einem eigenen Raumporträt verdichten. In diesem Buch wimmelt es nur so von solchen subjektiven Großregionen, die die Autoren von ihren persönlichen Streifzügen mitgebracht haben. Hier haben sie Erlebnisse, Eindrücke und Erfahrungen erarbeitet, aber nicht notwendigerweise in Eigenregie. Denn Räume können auch von Anderen erzeugt und inszeniert werden. So ist zum Beispiel das Kulturhauptstadtjahr 2007 eine bislang einzigartig gebliebene Inszenierung der Großregion, die eine Tatsächlichkeit des grenzüberschreitenden Raums voraussetzt und verfestigt.
Eine erschöpfende und abschließende Antwort auf Raum gibt es nicht. Er präsentiert sich als eigenständiges Wesen, aber auch als Prozess. Es bleiben also Spielräume. Was ist nun aber ein Grenzraum? Ein Raum (an) der Grenze? Unter Grenze wird zumeist der Ort verstanden, an dem nationale Behälterräume aneinanderstoßen. Dabei hat sich die Vorstellung einer kartographischen Linie durchgesetzt, die sich entlang von Zäunen, Grenzsteinen oder Wachposten nachzeichnen lässt. Sie trennt das Eine vom Anderen.
Grenzen sind aber nicht natürlich vorgegeben, sondern von Menschen gemacht. Sie helfen ihnen, zwischen Innen und Außen ‚Ordnung zu halten’. Das Andere jenseits der Grenze ist unverzichtbar, hat es als Kontrastfolie doch die eigene Identität zum Zweck. Damit kommt das verbindende Element von Grenzen ins Spiel, das sich in ständigen Selbstvergewisserungen äußert: So verweisen die Grenzüberschreitungen wiederum auf das Eigene. Grenzen sind also nicht nur Trennlinien, an denen Räume enden und andere beginnen. Vielmehr entfalten sich hier Orte der Begegnung, wie zum Beispiel der Limes, von Johannes Becker in diesem Buch als Kontaktzone skizziert: hier wird das Innen/Außen oder das Eigene/Andere kreativ verhandelt und es kristallisiert sich ein Raum der ‚Grenzgänger’ heraus – ein Raum der Grenze. Diese ‚Praxis der Grenze’ vereint Vertrautes und Fremdes, sie führt zur Entdeckung des Bekannten im Unerwarteten, bringt bisherige Ordnungen in Unordnung. Solche Dynamiken und Widersprüchlichkeiten erzeugen ein innovatives Moment, das die Großregion auszeichnet und das in diesem Buch erfahrbar wird.