Raumdeutungen

Seit der Raumwende (spatial turn) findet die räumliche Dimension in den Sozial- und Kulturwissenschaften verstärkt Beachtung. Damit hat sich die Vielfalt von Raumbegriffen und analytischen Zugriffen spürbar erweitert. Für eine Orientierung im Feld der Räume können drei mögliche und sich zum Teil überlagernde Deutungen des Raumbegriffs unterschieden werden:

Absolut-substantialistisches Raumkonzept

Das absolut-substantialistische Raumkonzept als erste Deutung entwirft Raum als ein ‚real existierendes’ Element der physisch-materialen Welt. Es schließt sowohl geographisch lokalisierbare Erdraumausschnitte als auch den von physisch-materialen Elementen abstrahierten Raum ein. Raum im Sinne der Erdoberfläche bezeichnet einen durch dominierende Gegebenheiten spezifizierten und sichtbaren Ausschnitt der physischen Welt, z. B. den Mittelmeerraum oder einen Ballungsraum. Die Raumgrenzen werden hier in Orientierung an Merkmalen des zu bezeichnenden Erdausschnitts definiert und sind zumeist unscharf gezogen.

Daneben ist Raum als dreidimensionale Ausdehnung im Sinne eines Behälters zu unterscheiden, in dem Objekte, Personen oder Ereignisse vorkommen. Dieses Verständnis formulierte Isaac Newton unter dem Eindruck der klassischen Mechanik im 18. Jh. folgendermaßen: „Der absolute Raum, der aufgrund seiner Natur ohne Beziehungen zu irgendetwas außer ihm existiert, bleibt sich immer gleich und unbeweglich“ (Newton 1988 zitiert in Löw 2001: 25). Raum wird hier also eine Wesenhaftigkeit zugeschrieben, die unabhängig von anderen Objekten existiert.

Die absolutistische Raumvorstellung hat sich in der Vergangenheit in vielen Wissenschaftsdisziplinen etabliert. So z. B. in der Geographie, in der Friedrich Ratzel im 19. Jh. das Lebensraumkonzept als Behältnis für Lebens-, Kultur-, Gesellschafts- und Wirtschaftsformen stark machte (vgl. Ratzel 1966; Werlen 2009: 149). Die darin angelegte Naturdeterminiertheit des Sozialen prägte das Fach zum Teil noch bis in die zweite Hälfte des 20. Jh. und verweist auf die Idee, dass Raum auf die in ihm befindlichen Objekte und Menschen einwirke. In den Sozialwissenschaften wurde das absolut-substantialistische Raumkonzept unter anderem mit der Annahme manifest, dass in Nationalstaaten das Territorium, die Nation, der Staat und die Kultur zu einer Einheit zusammenfielen. Dass die Ränder solcher Raumfiguren durchlässig sind und der Homogenitäts- bzw. Schließungscharakter von Gesellschaften nicht haltbar ist, haben schon Entwicklungen vor der Internationalisierung der 1990er Jahre gezeigt. Dennoch wird das Containermodell erst unter dem Eindruck von Globalisierungsdynamiken verstärkt problematisiert.

Mit Konzepten wie „Denationalisierung“, „Deterritorialisierung“ oder „Weltgesellschaft“ (vgl. z. B. Mau 2007: 35f.) und der aufkommenden Enträumlichungsthese wandelte sich der Status des absolut-substantialistischen Raumbegriffs: Da sich das Soziale aufgrund moderner Technologien und Medien vom Raum emanzipiere, sei von einem wachsenden Bedeutungsverlust von Raum auszugehen. Die damit wiedergegebene Enträumlichungsthese versucht zwar die Containerraumvorstellung zu überwinden, gleichwohl sie konstitutiv bleibt für das ‚Verschwinden von Raum’ – wird das geopolitische Ordnungsmodell der Nationalstaaten hier doch als Bezugspunkt von räumlichen Betrachtungen bemüht. Die sozial- und kulturwissenschaftliche Analyse zeitgenössischer Phänomene hat schließlich dafür sensibilisiert, dass die Kategorie ‚Raum’ keineswegs ausgedient hat. Vielmehr zeichnet sich durch Mobilität und Vernetzung ein neues Raumgreifen ab. Die damit aufgerufene Verräumlichungsthese hebt auf die vielfältigen räumlichen Bezüge des Sozialen ab, die als soziale, virtuelle oder transnationale Räume beschreibbar werden. Ihnen gemeinsam ist eine sozialkonstruktivistische und relationale Perspektive, die das in den letzten Jahrzehnten (wieder-)entdeckte Interesse am Raum wesentlich befördert hat.

Relational-konstruktivistisches Raumkonzept

Das relational-konstruktivistische Raumkonzept bezieht sich wie der absolut-substantialistische Raumbegriff auf die physisch-materiale Welt, jedoch stehen hier die Eigenschaften derselben im Vordergrund. Raum als Relation rückt dann in den Blick, wenn die Anordnung von physisch-materialen Elementen thematisiert wird, die auf einem Erdraumausschnitt lokalisiert werden können. Das relationale Verständnis ist unter anderem auf Albert Einstein zurückzuführen, der mit der Relativitätstheorie die Vorstellung von Raum als übergeordnete Realität widerlegte. Er ging von der Lagerungsqualität der Körperwelt aus, wonach sich Raum als eine Beziehungsstruktur zwischen Körpern und Artefakten darstellt (vgl. Einstein 1960 zitiert in Löw 2001: 34). Raum wird hier also nicht länger wesenartig und unabhängig von einem Inhalt gedacht, sondern die physisch-materialen Elemente werden räumlich konstitutiv.

Über die Lagerungsqualität von Körpern und Artefakten erschließen sich räumliche Verhältnisse, die in ihrer Relationalität allerdings veränderbar sind. Diese Auffassung wird zumeist dort (implizit) zu Grunde gelegt, wo Transaktionen, Ströme (flows) oder Netzwerke betrachtet werden. So z. B. in der relationalen Wirtschaftsgeographie, die sich vom raumwirtschaftlichen Ansatz abwendet und das Räumliche über ein lokalisierbares Geflecht von sozio-ökonomischen Beziehungen erschließt (vgl. Bathelt/Glückler 2003). In den Politikwissenschaften ist die relational-konstruktivistische Perspektive in Integrationstheorien vorzufinden, z.B. im transnationalen Regionalismus. Er zielt auf einen europäischen Integrationsprozess ‚von unten’ ab durch interregionale Zusammenarbeit und durch transnationale Netzwerkbildung zwischen subnationalen Einheiten (vgl. Schmitt-Egner 2005: 148). Auch in der Migrationssoziologie wird das Räumliche relational-konstruktivistisch gedacht, wenn (Trans-)Migrationsströme konstitutiv werden für transnationale soziale Räume (vgl. Pries 2008; Wille 2008). Die exemplarisch genannten Ansätze nehmen also translokale Beziehungen in den Blick und leiten daraus räumliche Strukturen ab.

Mit der relational-konstruktivistischen Perspektive ist die Gefahr verbunden, dass Raum lediglich anhand von Transaktionsströmen, Beziehungsverflechtungen oder Netzwerkkonfigurationen beschreibend nachgezeichnet wird und die Qualität dieser Strukturen – als sinnhaft konstituierte Räumlichkeit – vernachlässigt bleibt. Die deskriptive Dimension von Raum kann zwar von der qualitativen Dimension analytisch unterschieden werden, sie bilden jedoch zwei miteinander verschränkte Aspekte der Raumproduktion. Dies wird mit dem sozial-konstitutiven Raumkonzept deutlich, das den Schwerpunkt weniger auf die räumlichen Lagebeziehungen legt, sondern auf die Bedeutungsebene von Raum.

Sozial-konstitutives Raumverständnis

Im sozial-konstitutiven Raumverständnis wird die entwickelte Position, dass das Räumliche keine Wesenhaftigkeit besitzt und vom Sozialen her sowie relational zu denken ist, um die Sinnebene ergänzt. Zunächst ist auf eine erlebnisräumliche Bedeutung einzugehen, die sich auf die subjektive Wahrnehmung von Lagestrukturen bezieht. Es geht dabei um einen erlebten Raum, wie z.B. ‚das Studentenviertel’, in dessen Repräsentation bestimmte Deutungen und Bewertungen einfließen. Einen empirischen Zugriff auf solche Repräsentationen erlaubt die Mental-Map-Forschung. Die dort erhobenen subjektiven räumlichen Abbilder, die Löw (2001: 159) als Syntheseleistung – im Sinne einer kognitiven Zusammenfassung von Subjekten und Artefakten zu Räumen – thematisiert, ermöglichen einen ersten an Sinn orientierten Zugang zu Räumen. Eine weitere Deutung des sozial-konstitutiven Raumbegriffs fokussiert auf die tätige und sinnhafte Auseinandersetzung des Subjekts mit seiner sozialen und materialen Umwelt. Ausgegangen wird hier davon, dass Körpern und Artefakte keine Bedeutungen eingeschrieben sind, sondern sie erst im Umgang mit ihnen bedeutsam und damit räumlich relevant werden (vgl. Werlen 1999: 223). Das Erkenntnisinteresse besteht dann darin zu bestimmen, wie Raum in seiner materialen und sinnhaften Dimension durch Subjekthandeln entsteht.

Diese Sicht auf Raum wurde in der deutschsprachigen Geographie von Benno Werlen in den 1980er Jahren stark gemacht. In der „Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen“ (z. B. Werlen 1997, 2010) sollte das Soziale nicht länger in räumliche Kategorien ‚zergliedert’, sondern umgekehrt die soziale Produktion von räumlichen Verhältnissen thematisiert werden. Der Verräumlichungsthese folgend sollten Raumanalysen nun auf das „Geographie-Machen“ (Werlen 2007a: 28) der Subjekte fokussieren. Mit Geographien bzw. Raum werden dabei in deskriptiver Hinsicht „die unterschiedlichen Relationierungen der körperlichen Subjekte mit anderen physisch-materiellen Gegebenheiten [...] zum Ausdruck“ gebracht (Werlen 2007b: 10); in qualitativer Hinsicht bezeichnet Raum die im Rahmen von Relationierungen hervorgebrachten Sinnzuschreibungen und Sinndeutungen der Subjekte. Damit sind die analytischen Aspekte des sozial-konstitutiven Raumbegriffs genannt: Zum einen die relationalen Lagestrukturen von Artefakten und Körpern, die im Alltagshandeln entstehen; zum anderen die Sinndeutungen und Sinnzuschreibungen gegenüber der materialen und sozialen Welt, die in Alltagshandeln einfließen und sozial wirksam werden.

Literatur

Bathelt, Harald/Glückler, Johannes (2003): Wirtschaftsgeographie. Ökonomische Beziehungen in räumlicher Perspektive. Stuttgart.

Löw, Martina (2001): Raumsoziologie. Frankfurt/M.

Mau, Steffen (2007): Transnationale Vergesellschaftung. Die Entgrenzung sozialer Lebenswelten. Frankfurt/M.

Pries, Ludger (2008): Die Transnationalisierung der sozialen Welt. Frankfurt/M.

Ratzel, Friedrich (1966): Der Lebensraum. Eine biogeographische Studie. Darmstadt.

Schmitt-Egner, Peter (2005): Handbuch zur Europäischen Regionalismusforschung. Theoretisch-methodische Grundlagen, empirische Erscheinungsformen und strategische Optionen des Transnationalen Regionalismus im 21. Jahrhunderts. Wiesbaden.

Werlen, Benno (2010): Gesellschaftliche Räumlichkeit. Orte der Geographie (Bd. 1). Stuttgart.

Werlen, Benno (2009): Geographie/Sozialgeographie. In: Günzel, Stephan (Hg.): Raumwissenschaften. Frankfurt/M., 142-158.

Werlen, Benno (2007a): Globalisierung, Region und Regionalisierung. Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen (Bd. 2). Stuttgart (2. Aufl.).

Werlen, Benno (2007b): Einleitung. In: Werlen, Benno (Hg.): Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen. Ausgangspunkte und Befunde empirischer Forschung (Bd. 3). Stuttgart, 9-16.

Werlen, Benno (1999): Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen. Zur Ontologie von Gesellschaft und Raum (Bd. 1), Stuttgart.

Werlen, Benno (1997): Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen. Globalisierung, Region und Regionalisierung (Bd. 2). Stuttgart.

Wille, Christian (2008): Zum Modell des transnationalen sozialen Raums im Kontext von Grenzregionen. Theoretisch-konzeptionelle Überlegungen am Beispiel des Grenzgängerwesens. In: Europa Regional 16 (2), 74-84.

Wille (2020): Espaces de frontière: penser et analyser la frontière en tant qu’espace. In: Dziub, Nikol (Hg.): Le Transfrontalier. Pratiques et représentations. ÉPURE, 23-50. mehr Info
Wille (2015): Spaces of the Border – a Practice-theoretical Cultural Studies Perspective in Border Studies. In: Europa Regional 21 (1-2, 2013), 60-71. mehr Info