Analytische Perspektiven auf Raum
Ausgangspunkt der Überlegungen sind der Konstruktionscharakter und die Prozesshaftigkeit von Räumen. Für ihre Untersuchung sind nicht die Räume ‚als solche’, sondern die Praktiken ihrer Produktion mit den jeweils beteiligten Subjekten, Körpern, Artefakten, Weltbildern, Bedeutungen und Machtverhältnissen relevant. Diese generelle Untersuchungsperspektive – ausgehend und entlang von sozialen Praktiken und ihren Materialisierungen – lässt sich auf verschiedene Formen der Raumkonstruktionen übertragen, die sich empirisch allerdings überlagern:
Die machtkritische Perspektive auf Raumkonstruktionen folgt der Annahme, dass Räume mehr oder weniger offensichtlich von Herrschafts- und Machtverhältnissen, genauer von Politiken und Normierungen, durchzogen sind. Um diese offenzulegen, werden die in Raumkonstruktionen angelegten Differenzierungen, Bedeutungszuweisungen, Hierarchisierungen und andere Techniken der Machtausübung untersucht. Dabei kann u.a. an die Überlegungen von Julia Lossau (2003) und von Michel Foucault (1976) angeknüpft werden:
Lossau (2003) untersucht in ihren Arbeiten Anfang der 2000er Jahre, die eher den sprachlich-kommunikativen Raumkonstruktionen zuzurechnen sind, inwiefern Soziales über Praktiken der Verortung bzw. über symbolische Verräumlichungen naturalisiert wird. Ihre Überlegungen basieren im Anschluss an Said (1978) auf einem konstruktivistisch-performativen Raumverständnis, d.h. dass Wirklichkeit immer „erst [entsteht] durch kontinuierliche Bedeutungszuweisungen; durch Sprechen oder Schreiben […]“ und dass die dafür verwendeten Repräsentationen „immer auch in Fragen nach Macht und Herrschaft eingelassen sind“ (Lossau 2003: 104). Repräsentationsarbeit ist somit immer gekoppelt an eine „Politik der Verortung“ (Lossau 2002). Eine machtkritische Perspektive auf Raum einzunehmen bedeutet dann zu hinterfragen, wer was wie repräsentiert bzw. ‚verortet‘ und zu welchem Zweck.
Eine andere aber ähnlich gelagerte Perspektive entwickelt Foucault, der sich stärker alltagspraktischen Raumkonstruktionen zuwendet. Dafür stehen zunächst Architekturen als Steuerungsmedien, die über ihre Dispositionen und Materialitäten Lenkungseffekte erzeugen, d.h. Techniken der Macht, mit denen sich Körper und kulturelle Praktiken anordnen und beherrschen lassen (vgl. Foucault 1976). Demfolgend kann dann nach den Territorialisierungsstrategien von Architektur oder noch grundsätzlicher danach gefragt werden, „welche Funktionen Raumproduktionen bei der Steuerung von Bevölkerung erfüllen und wie sich durch Territorialisieren und Zonieren menschliches Handeln und gesellschaftliche Teilhabe lenken lässt“ (Schreiber 2009: 202). Daneben ermöglicht Foucault dort eine machtkritische Perspektive, wo alltagskulturelle Praktiken als Kristallisationspunkte von Räumen betrachtet werden. Das analytische Augenmerk richtet sich hier erst in einem zweiten Schritt auf die jeweils hervorgebrachten Raumfiguren, zunächst stehen die die Raumpraktiken mehr oder weniger ‚anleitenden’ Subjektivationen und Subjektivierungen im Zentrum. Diese können anhand von alltagskulturellen Logiken auf Subjektebene untersucht werden, die sich in sozialen Praktiken und den dort hervorgebrachten räumlichen Verhältnissen manifestieren.
Eine an Medien orientierte Perspektive auf Raumkonstruktionen schreibt sich weitgehend in das Forschungshandeln im Kontext des topographical turn (vgl. Wagner 2010; Weigel 2002) ein. Damit wird sowohl die Untersuchung von raumkonstitutiven Codierungen und Repräsentationstechniken in kulturellen Medien als auch die semiotische Lesart von physisch-materiellen Räumen bezeichnet. Für solche topographischen Lektüren sind raumbildende Konstruktionsmechanismen zentral, die der Literaturwissenschaftler Edwar W. Said mit dem Konzept der „imaginativen Geographien“ (Said 1978) thematisiert. In seinen Arbeiten rekonstruiert er u.a. den Orient-Diskurs des Westens und zeigt auf, wie der dort konstruierte Andere für die koloniale Expansion des Westens instrumentalisiert wird; oder in anderen Worten: „wie aus imaginierten Geographien machtvolle Instrumente zur Herrschaftsausübung und zur Umgestaltung auch des physisch-materiellen Raums werden konnten“ (Döring 2010: 96). Neben machtkritischen Aspekten geht es hier v.a. um die performative Dimension medial-diskursiver Praktiken, genauer gesagt um symbolische Verfahren der Bedeutungszuweisung und -repräsentation, über die räumliche Verhältnisse und Identitäten hergestellt werden.
Auch die Sozialgeographinnen Annegret Harendt und Dana Sprunk (2011) untersuchen verräumlichende Praktiken unter performativen Gesichtspunkten, und zwar im Kontext von Medienberichterstattungen. Dafür entwickeln sie im Rückgriff auf literaturwissenschaftliche Termini die Begriffe des ‚erzählten Raums’ und ‚Erzählraums’ und versuchen so zwei Dimensionen von imaginativen Geographien herauszustellen. Beim ‚erzählten Raum’ fokussieren sie auf das Gesagte und damit auf raumbezogene Codierungen; beim ‚Erzählraum’ gerät das Gezeigte und damit die ‚Bühne’ und Materialität der Rauminszenierung in den Blick. Mit Letzterem wird ein zusätzlicher Aspekt medialer Raumproduktionen erschlossen, ergänzt er doch die Frage nach den symbolischen Ordnungen um jene nach der mise en scène von Rauminszenierungen.
Die subjektzentrierte Perspektive auf Raum hebt auf alltagskulturelle Praktiken und die dort hervorgebrachten Raumproduktionen ab. Anknüpfungspunkt dafür ist zunächst der Ansatz der „alltäglichen Regionalisierungen“ (Werlen 1997a), der „auf die menschliche Praxis unter besonderer Berücksichtigung der räumlichen Bedingungen der materiellen Medien des Handelns, ihrer sozialen Interpretation und Bedeutung“ (Werlen 2007a: 66) fokussiert. Analytisch betrachtet geht es dabei um Objektkonstellationen bzw. Beziehungsstrukturen zwischen Artefakten und Körpern, die von Subjekten in sozialen Praktiken hervorgebracht werden. Daneben geht es um Sinnzuschreibungen und -deutungen, die in soziale Praktiken einfließen, sich in Repräsentationen verdichten und wiederum sozial wirksam werden. Beide Aspekte – sowohl das beobachtbare und relationierende Handeln als auch die sinnhaften Prozesse – beziehen sich auf die physisch-materielle Welt. Raum wird dann als ein Konstrukt verstanden, das in relational-beschreibender Hinsicht „die unterschiedlichen Relationierungen der körperlichen Subjekte mit anderen physisch-materiellen Gegebenheiten [...] zum Ausdruck“ (Werlen 1997b: 10) bringt; in symbolisch-interpretativer Hinsicht repräsentiert es die im Zuge von Relationierungen hervorgebrachten Sinnzuschreibungen und -deutungen von Subjekten.
Der Ansatz der „alltäglichen Regionalisierungen“ bleibt weitgehend den klassischen Ansätzen der Handlungserklärung verhaftet. Diese operieren mit rationalen Handlungsorientierungen, mit normativ-kollektiven Konsens über (il-)legitimes Handeln sowie mit intersubjektiv und stabil gedachten Wissensordnungen und blenden das körperliche Handeln und seine Materialisierungen konzeptionell weitgehend aus (vgl. Reckwitz 2003). Die Analyse von alltagskulturellen Praktiken als Kristallisationspunkte von Räumen fordert raumtheoretische Anschlüsse via Körper und Artefakte ein; unter globalisierten Bedingungen vor allem aber eine Relativierung der rationalen Abwägung und Erwartbarkeit der Zielerreichung, der Intersubjektivität als ‚soziales Schmiermittel’ und der ‚ordentliche’ Ausführung von ‚gültigen’ Regel- und Symbolsystemen. Das bedeutet, alltagskulturelles Handeln sollte stärker als kontingentes Projekt mit seinen Instabilitäten, interpretativen Unbestimmtheiten und Ambivalenzen in den Blick geraten. Einen dafür geeigneten Praktikenbegriff stellen die praxeologisch orientierten Ansätze bereit, die – mit ihren jeweils spezifischen Akzentuierungen – eine Perspektive auf menschliche Aktivitäten entwickeln, die kulturelle Kontingenz und die körperliche Auseinandersetzung mit der sozialen und physisch-materialen Welt gleichermaßen berücksichtigt. Die Verschneidung der praxeologischen Sichtweise auf menschliche Aktivitäten mit dem Ansatz der „alltäglichen Regionalisierungen“ (Werlen 1997a) eröffnet geeignete Zugänge für die subjektzentrierte Untersuchung von Raumkonstruktionen (vgl. Wille 2014).
Bachmann-Medick, Doris (2006): Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek: Rowohlt.
Döring, Jörg (2010): »Spatial Turn«, in: Stephan Günzel (Hg.), Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: Metzler, S. 90-99.
Foucault, Michel (1976): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Harendt, Annegret/Sprunk, Dana (2011): »Erzählter Raum und Erzählraum: (Kultur-)Raumkonstruktion zwischen Diskurs und Performanz«, in: Social Geography 6, S. 15-27.
Lossau, Julia (2003): »Geographische Repräsentationen: Skizze einer anderen Geographie«, in: Hans Gebhardt/Paul Reuber/Günther Wolkersdorfer (Hg.), Kulturgeographie. Aktuelle Ansätze und Entwicklungen, Heidelberg/Berlin: Spektrum Akademischer Verlag, S. 101-111.
Lossau, Julia (2002): Die Politik der Verortung. Eine postkoloniale Reise zu einer »ANDEREN« Geographie der Welt, Bielefeld: transcript.
Reckwitz, Andreas (2003): »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken: Eine sozialtheoretische Perspektive«, in: Zeitschrift für Soziologie 32/4, S. 282-301.
Said, Edward W. (1978): Orientalism, New York: Pantheon Books.
Schreiber, Verena (2009): »Raumangebote bei Foucault«, in: Georg Glasze/Annika Mattissek (Hg.), Handbuch Diskurs und Raum. Theorien und Methoden für die Humangeographie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung, Bielefeld: transcript, S. 199-212.
Wagner, Kirsten (2010): »Topographical Turn«, in: Stephan Günzel (Hg.), Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: Metzler, S. 100-109.
Weigel, Sigrid (2002): »Zum ‚topographical turn’. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften«, in: KulturPoetik 2/2, S. 151-165.
Werlen, Benno (1997a): Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen. Band 2: Globalisierung, Region und Regionalisierung, Stuttgart: Franz Steiner Verlag.
Werlen, Benno (1997b): »Einleitung«, in: Benno Werlen (Hg.), Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen. Band 3: Ausgangspunkte und Befunde empirischer Forschung, Stuttgart: Franz Steiner Verlag, S. 9-16.
Wille, Christian (2014): Räume der Grenze. Eine praxistheoretische Perspektive in den kulturwissenschaftlichen Border Studies. In: Elias, Friederike / Franz, Albrecht / Murmann, Henning/ Weiser, Ulrich Wilhelm (Hg.): Praxeologie. Beiträge zur interdisziplinären Reichweite praxistheoretischer Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Berlin, De Gruyter, S. 53-72.