Räume und Identitäten als soziale Praxis
Die an der ‚Praxis’ orientierte Beschreibung und Analyse von Räumen und Identitäten ist unstrittig geworden, was etablierte Konzepte wie z. B. die „Produktion des Raums“ (Lefebvre 1981, Soja 1996), die „Erfindung der Nation“ (Anderson 1988) oder die „Identitätsarbeit“ (Keupp u. Höfer 1997) zeigen. Entsprechende Ansätze gehen von einer sozialkonstruktivistischen Auffassung von Räumen und Identitäten aus, die verkürzt als Doing Space bzw. Doing Identity wiedergegeben werden kann. Räume und Identitäten werden hier als Resultanten von gesellschaftlicher Praxis betrachtet und können konsequenterweise auch nur dort rekonstruiert werden.
Bereits der französische Sozialphilosoph Henri Lefebvre hat Raum als einen sozial hergestellten gefasst und den Prozess seiner Produktion an gesellschaftstheoretische Fragestellungen gekoppelt (vgl. Lefebvre 1991). Sein Anliegen war es, das Zusammenwirken verschiedener Raumkonzeptionen zu entschlüsseln, physischen und sozialen Raum zusammenzudenken und eine Prozessperspektive auf Raum einzunehmen. Der französische Soziologe Michel de Certeau reiht sich hier ein, wenn er die Unterscheidung zwischen Ort (lieu) als die von ‚disziplinierenden’ Codes durchzogene physisch-materiale Welt und Raum (espace) als deren ‚praktische‘ Aneignung bzw. Umdeutung einführt (vgl. de Certeau 1997). Brigitte Hipfl (2004) folgt Lefebvre und de Certeau, sie nimmt aber den Zusammenhang zwischen Medien, Identitäten und Raum näher in den Blick: Diese Kategorien seien „untrennbar miteinander verknüpft“ und stehen in einem konstitutiven Wechselverhältnis (vgl. Hipfl 2004, S. 16).
Dieser Zusammenhang äußert sich nicht nur in der gemeinsamen Untersuchungsperspektive des Doing, sondern auch in den jeweils zu Grunde gelegten heuristischen Kategorien. Denn während die Untersuchung von Differenzen, Relationen und Sinn (hinsichtlich physisch-materialer Aspekte) Aussagen über Raumproduktionen erlauben, zeigen sie gleichzeitig Verortungen oder Subjektpositionen an und ermöglichen Aussagen über Identitätskonstruktionen. Diese Verknüpfung gelingt über die mit Jacques Derrida (1976) etablierte Auffassung, dass Identitäten über das „Spiel der Differenzen“ möglich werden, womit variable und ausschließende Bezugnahmen zu einem wie auch immer verfassten konstitutiven Anderen aufgerufen sind. Ein bekanntes Beispiel dafür sind die Arbeiten des Literaturwissenschaftlers Edwar W. Said (1978), der den Orient-Diskurs des Westens rekonstruiert und entlarvt, wie das dort hergestellte Andere für die koloniale Expansion des Westens instrumentalisiert wird. Dabei geht es um die performative und politische Dimension von sprachlichen Praktiken, genauer gesagt um symbolische Verfahren der Bedeutungszuweisung und -repräsentation, über die Räume und Identitäten entstehen.
Identitäten auf Subjektebene lassen sich gleichermaßen als gesellschaftliche Produktion beschreiben und untersuchen, wofür sich besonders das Foucaultsche Begriffsinstrumentarium eignet. Es vermag das „Spiel der Differenzen“ in seiner Vielschichtigkeit und Subtilität zu fassen, d.h. Differenzmarkierungen, variable Relationierungen und Sinnzuweisungen/-deutungen, denen das Subjekt – verstanden als sozial konstituiert und zugleich das Soziale konstituierend – ausgesetzt ist und die es mitgestaltet.
Ähnlich wie Räume sind also auch Identitäten relational angelegt, sie werden über Abgrenzungen sichtbar und schließen eine Sinngrundlage bzw. Bedeutungsdimension ein. Es sind aber nicht nur konzeptionelle Parallelen zwischen Räumen und Identitäten feststellbar, ebenso ein konstitutiver Zusammenhang zwischen beiden Kategorien. Das heißt, Raum- und Identitätskonstruktionen durchdringen sich wechselseitig, weshalb Raumkonstruktionen auf die darin angelegten Identitäten befragt werden können oder umgekehrt Identitätskonstruktionen auf die darin angelegten Verräumlichungen.
Das umrissene konzeptionelle Verständnis hat die soziale Praxis zu einer Schlüsselkategorie der modernen Raum- und Identitätsforschung werden lassen. Bachmann-Medick (2006, S. 303) spricht in diesem Zusammenhang von einer „methodische[n] Untersuchungseinstellung“, womit sie die generelle Forschungshaltung, ausgehend und entlang von sozialen Praktiken, bezeichnet.
Anderson, B. (1988): Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt/M.
Bachmann-Medick, D. (2006): Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek.
de Certeau, M. (1997): The Practice of Everyday Life. Berkeley u. Los Angeles.
Derrida, J. (1976): Die Schrift und die Differenz. Frankfurt/M.
Hipfl, B. (2004): Mediale Identitätsräume. Skizzen zu einem ‚spatial turn’ in der Medien- und Kommunikationswissenschaft. In: Hipfl, B., E. Klaus u. U. Scheer (Hrsg.): Identitätsräume. Nation, Körper und Geschlecht in den Medien. Eine Topografie. Bielefeld, S. 16-50.
Keupp, H., R. Höfer (1997) (Hrsg.): Identitätsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung. Frankfurt/M.
Lefebvre, H. (1991): The Production of Space. Oxford.
Lefebvre, H. (1981): La Production de l'Espace. Paris.
Said, E. W. (1978): Orientalism. New York.
Soja, E. W. (1996): Thirdspace: Journeys to Los Angeles and Other Real-and-Imagined Places, Oxford.
Wille, C. / Reckinger, R.: Räume und Identitäten als soziale Praxis. In: Europa Regional 21 (1-2), 2013 (2015), S. 3-8.