Körper - Artefakte - Sinn
Die praxistheoretischen Ansätze (z. B. Pierre Bourdieu, Anthony Giddens, Theodore Schatzki, Bruno Latour) entwickeln eine Perspektive auf Handeln, die kulturelle Kontingenz und die körperliche Auseinandersetzung des Subjekts mit seiner sozialen und materialen Umwelt einschließt. Handeln wird dabei nicht als punktuelle Einzelaktivität mit ‚dahinterliegenden’ Zwecken und Normen verstanden, sondern als eine Verkettung von material verankerten und sozial verstehbaren Praktiken, die als „Wiederholung[en] und permanente Verschiebung[en] von Mustern der Bewegung und der Äußerung von aktiven Körpern und Dingen“ auftreten und „zugleich durch Formen impliziten Wissens […] zusammengehalten und ermöglicht werden“ (Reckwitz 2008a: 202).
Damit ist angedeutet, dass die Beschäftigung mit sozialer Praxis – wie sie seit einigen Jahren in der deutschsprachigen Soziologie unter dem Terminus ‚Praxistheorie’ stattfindet (vgl. z.B. Reckwitz 2003; Moebius 2008; Hillebrandt 2009, Reckwitz 2010; Schmidt 2012, Schäfer 2013) – zumeist mit einer Kritik an klassischen Ansätzen der Handlungserklärung sowie mit einer gesteigerten Aufmerksamkeit für die körperlich-materiale Dimension menschlicher Aktivität einhergeht. Dies macht die Praxistheorien interessant für sozialkonstruktivistische Ansätze innerhalb der Border Studies und ist dem ‚anderen’ Zugang zum Sozialen geschuldet: Praxistheorien mit ihren jeweils spezifischen Akzenten verstehen ‚Gesellschaft’ weniger als ein Verhalten vieler Einzelner auf Grundlage eines – oftmals (noch) territorial gedachten – normativen Konsens’, sondern als einen fortlaufenden Prozess der Vergesellschaftung, d.h. als „soziale Vollzüge in räumlich und zeitlich konkret bestimmbaren, materiell situierten und miteinander verknüpften Kontexten“ (Schmidt 2012: 11).
Aufgabe der empirischen Forschung ist es die relational zueinander stehenden, sich möglicherweise grenzüberschreitend aufspannenden „und sich dynamisch beständig umschichtenden wie auch sich reproduzierenden Cluster von Praktiken“ (ebd.) auf ihre kontingenten Sinnproduktionen und räumlich-materialen Konfigurationen zu befragen. Sinn besitzt dabei weder eine übersubjektive Existenz, noch ist er im Bewusstsein des homo in praxi ‚eingelagert’. Diese „fehlende Rückendeckung“ (Volbers 2011: 147) durch eine anleitende (Wissens-)Struktur lenkt den Blick auf das Vollzugsgeschehen, d.h. auf die soziale Praxis, wo praktisches Wissen aktualisiert und hervorgebracht wird und den Rahmen dafür bildet, wie Dinge in einer Praktik interpretiert oder praktisch gehandhabt werden können (vgl. Reckwitz 2010: 193).
Das Soziale ‚verbirgt’ sich in den Praxistheorien demnach nicht in der normativen Abgestimmtheit von rationalen, intendierten Handlungen oder in der Intersubjektivität von kulturellen Codes, sondern es wird sichtbar in den kontingenten Vollzügen von körperlich-material verankerten Praktiken, über die soziale Ordnungen und (grenzüberschreitende) räumliche Verhältnisse entstehen, reproduziert oder transformiert werden.
Praxistheoretische Ansätze sind für die Untersuchung von grenzüberschreitenden Sozialzusammenhängen gewinnbringend. Zum einen bieten sie Anknüpfungspunkte für die konzeptionelle und empirische Berücksichtigung von Körpern und Artefakten, die für raumtheoretische Anschlüsse unverzichtbar sind. Zum anderen wird mit der Betonung der Vollzugsdimension menschlicher Aktivität die vermeintliche übersubjektive Existenz von Regelsystemen und Bedeutungszusammenhängen überwunden, wird praktisches Wissen doch den körperlichen Praktiken zugeordnet. Somit steht Wissen nicht als eine Eigenschaft von Subjekten oder ein räumlich definierter Gültigkeitsbereich für bestimmte Wissensstrukturen dies- und jenseits einer territorialen Grenze im Zentrum, sondern die Frage, welches Wissen in (grenzüberschreitend verstreuten) Praktiken wirksam und (re-)produziert wird bzw. rekonstruiert werden kann.
Der Praktikenbegriff betont den kollektiven Charakter von menschlichen Aktivitäten, wobei symbolische Ordnungen bzw. kulturelle Codes nicht als ‚außerhalb der Praktik seiend‘ aufgefasst werden, sondern als in den sozialen Praktiken angelegt und durch diese hervorgebracht. Über die sozialen Praktiken entfalten Deutungsmuster oder symbolische Machtverhältnisse erst ihre Existenz und Wirkung. Robert Schmidt (2012: 57) betont in diesem Zusammenhang, dass der Praktikenbegriff „Konzepte und Vermögen wie Intentionalität, Bewusstheit und Reflexivität“ keinesfalls ausblende, sondern diese „praxeologisch reformuliert“. Das bedeutet, dass das analytische Augenmerk auf das beobachtbare Tun und die in ihm manifest werdenden Fähigkeiten, Sinngrundlagen und räumlichen Verhältnisse zu richten ist.
Der Praktikenbegriff betont den routinisierten und den kreativ-unberechenbaren Charakter von menschlicher Aktivität. Damit wird sowohl die Repetitivität von Praktiken als auch ihre situative und kontextuelle Adaptivität zum Gegenstand der Analyse. Damit wird es möglich, die „im Detail dechiffrierbare[n]‚ unreine[n] Kombinationslogik diverser kultureller Elemente in den Praktiken, Diskursen, Subjektivierungen und Praxis-/Artefaktesystemen“ (Reckwitz 2010: 195) in den Blick zu nehmen. Der reproduktiv-routinisierte Charakter von Praktiken, wie ihn besonders Bourdieu betont, und ihr kreativ-ereignishafter Charakter, wie er v.a. bei Derrida oder Butler erscheint, bilden zwei Seiten einer Medaille (vgl. Reckwitz 2009: 174). Diese Betrachtungsweise hebt auf die Kontingenz sozialer Logiken ab und damit auf kulturellen Wandel – ein Aspekt, der bei Untersuchungen in Grenzräumen von besonderer Bedeutung ist.
Praktiken sind nicht nur beobachtbar über körperliche Performanz, wozu auch Sprache und andere symbolische Formen gehören, sondern sie manifestieren sich ebenso in bzw. mit Artefakten. Die materielle Dimension der Körper und Artefakte kann z.B. Technologien, Architekturen oder räumliche Strukturierungen umfassen und zugleich als Teil eines Diskurses aufgefasst werden. Diskurse werden dann nicht verstanden als ein Reden über bestimmte Sachverhalte, sondern als Elemente, die kulturelle Repräsentationen produzieren und Gegenstände bilden, indem sie von ihnen sprechen. So stellen Diskurse selbst Praktiken dar: „Praktiken der Repräsentation“ (Reckwitz 2006: 43) oder „Diskurspraktiken“ (Foucault 1981), die – wie alle Praktiken – eine materiale Verankerung aufweisen und wiederum Diskurse realisieren. Artefakte als Bestandteile von Praktiken können darauf befragt werden, wie sie Praktiken beeinflussen, indem sie gehandhabt werden, und wie sie Praktiken ermöglichen oder einschränken. Dieser Fokus auf Aneignungs- bzw. Verwendungsweisen von Artefakten ermöglicht Anschlüsse an raumtheoretische Überlegungen, lassen sich doch „sämtliche soziale Praktiken […] als spatializing betrachten“ (Reckwitz 2008b: 91). Damit angesprochen sind Artefaktekonstellationen und/oder raumbezogene bzw. raumgenerierende Sinndeutungen, die der räumlichen Dimensionen sozialer Praktiken zugeschlagen werden können.
Foucault, Michel (1981): Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Hillebrandt, Frank (2009): Praxistheorie. In: Kneer, Georg/Schroer, Markus (Hg.): Handbuch Soziologische Theorien. Wiesbaden, 369-394.
Moebius, Stefan (2008): Handlung und Praxis. Konturen einer poststrukturalistischen Praxistheorie. In: Moebius, Stefan/Reckwitz, Andreas (Hg.): Poststrukturalistische Sozialwissenschaften. Frankfurt/M., 58-74.
Reckwitz, Andreas (2010): Auf dem Weg zu einer kultursoziologischen Analytik zwischen Praxeologie und Poststrukturalismus. In: Wohlrab-Sahr, Monika (Hg.): Kultursoziologie. Paradigmen – Methoden – Fragestellungen. Wiesbaden, 179-205.
Reckwitz, Andreas (2009): Praktiken der Reflexivität: Eine kulturtheoretische Perspektive auf hochmodernes Handeln. In: Böhle, Fritz/Weihrich, Margit (Hg.): Handeln unter Unsicherheit. Wiesbaden, 169-182.
Reckwitz, Andreas (2008a): Subjekt/Identität. In: Moebius, Stephan/Reckwitz, Andreas (Hg.): Poststrukturalistische Sozialwissenschaften. Frankfurt/M., 75-92.
Reckwitz, Andreas (2008b): Praktiken und Diskurse. Eine sozialtheoretische und methodologische Relation. In: Kalthoff, Herbert/Hirschauer, Stefan/Lindemann, Gesa (Hg.): Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung. Frankfurt/M., Suhrkamp, 188-209.
Reckwitz, Andreas (2006): Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.
Reckwitz, Andreas (2003): Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive. In: Zeitschrift für Soziologie 32 (4), 282-301.
Schäfer, Hilmar (2013): Die Instabilität der Praxis: Reproduktion und Transformation des Sozialen in der Praxistheorie. Weilerswist.
Schmidt, Robert (2012): Soziologie der Praktiken. Konzeptionelle Studien und empirische
Analysen. Frankfurt/M.
Volbers, Jörg (2011): Zur Performativität des Sozialen. In: Hempfer, Klaus W./Volbers, Jörg (Hg.): Theorien des Performativen. Sprache – Wissen – Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahme. Bielefeld, 141-160.
Wille, Christian (2014): Espaces de frontière. Penser et analyser la frontière en tant qu’espace. Vortrag im Rahmen der 14ème conférence internationale BRIT (Border Regions In Transition) „La frontière, source d’innovation”, Université d’Artois, Université de Lille 1, Université Catholique de Louvain (Belgique/France).
Wille, Christian/Reckinger, Rachel (i.E.) (Hg.): Räume und Identitäten als soziale Praxis. Europa Regional.
Wille, Christian et al. (2014): Subjektivationen und Subjektivierungen. In: Wille, Christian/Reckinger, Rachel/Kmec, Sonja/Hesse, Markus (Hg.): Räume und Identitäten in Grenzregionen. Politiken – Medien – Subjekte. Bielefeld, transcript, 247-257.