Arbeiten
Über 240.000 Menschen pendeln in der Großregion SaarLorLux über eine nationale Grenze an ihren Arbeitsplatz. Sie sind Gegenstand dieser Studie, die das Grenzgängerwesen erstmalig kulturwissenschaftlich untersucht. Im Zentrum stehen subjektzentrierte Raumkonstruktionen in transnationalen Bezügen, die über ein interdisziplinäres Modell erschlossen werden. Es basiert auf sozialgeographischen und kultursoziologischen Ansätzen und wird mit unterschiedlichen Erhebungstechniken umgesetzt.
”This book is an outstanding example of a theoretically ambitious study that provides highly interesting material from original survey, and which could serve as an exceptional basis for further studies on “daily” crossings in European borderlands.Bernhard Köppen in Articulo - Journal of Urban Research [Online], Book Reviews, 2013
”Il demeure, sans le moindre doute, que cette vision d’ensemble fait date pour la compréhension des relations socio-économique en Europe et de la place des citoyens dans des processus socio-spatiaux de construction de nouvelles territorialités et de nouvelles identifications.Philippe Hamman in Revue des Sciences Sociales. (Issue spéciale "Frontières"), Nr. 48, 2012, S. 198-199.
”Bemerkenswert ist nicht nur der Umfang dieser Studie, sondern auch die innovative Herangehensweise. Leser, die sich für das Thema der Grenzgänger interessieren, werden in diesem Buch eine Vielzahl von Denkanstößen und Erklärungen finden.Gregor Schnuer in Forum für Politik, Gesellschaft und Kultur in Luxemburg. Nr. 321, 2012, S. 64-66.
Inhalte
Betrachtet wurden Verläufe von Erwerbsbiographien, Strategien der Stellenfindung, Motivstrukturen sowie Aspekte der Lebensqualität und Zukunftspläne von Grenzgängern. Herausgearbeitet wurden traditionell-kontinuierliche Erwerbsverläufe, die überwiegend ältere Grenzgänger des industriellen Sektors kennzeichnen, und flexibel-diskontinuierliche Erwerbsbiographien, die tendenziell jüngere Pendler der Dienstleistungsbranchen aufweisen. Nahezu die Hälfte der Grenzgänger hat die aktuelle Arbeitsstelle über informelle Informationskanäle gefunden; die Motive für grenzüberschreitende Arbeitnehmermobilität beruhen weitgehend auf regionalen Unterschieden in den Einkommensmöglichkeiten und des Beschäftigungsangebots. Die Annäherung an Aspekte der Lebensqualität erfolgte über die Vor- und Nachteile des ‚Lebens als Grenzgänger’, hinsichtlich dessen neben den langen Anfahrtswegen die Aussicht auf eine auskömmliche Rente, das multikulturelle Arbeitsumfeld und die Möglichkeit eine Fremdsprache zu lernen, genannt wurden. Ferner wurden die vergleichsweise gute finanzielle Situation sowie die knappen Zeitressourcen und der Stress durch lange Anfahrtswege erwähnt. Dennoch kristallisierte sich das ‚Leben als Grenzgänger’ als ein dauerhaftes Lebens- und Erwerbsprojekt heraus.
Zur Betrachtung von Interaktionen am Arbeitsplatz wurden die Pluralität der Kollegenkreise (hinsichtlich der Nationalität), subjektive Differenzkonstruktionen und der Umgang mit diesen untersucht. Deutlich wurde, dass die Unternehmen drei bis vier der berücksichtigten Nationalitäten beschäftigen und Grenzgänger überwiegend mit ansässigen Kollegen und Kollegen aus der Wohnregion zusammenarbeiten. Damit verbunden ist der Umstand, dass informelle Momente in der betrieblichen Praxis weitgehend mit Personen aus dem Wohnland verbracht werden. Dafür maßgeblich sind eine gemeinsame Verständigungssprache und ein geteiltes Alltagswissen. Allerdings wird die Pluralität am Arbeitsplatz – im Hinblick auf unterschiedliche Mentalitäten und Fremdsprachen – als interessant und bereichernd erlebt. Unterschiede zwischen Kollegen verschiedener Nationalitäten wurden hinsichtlich der beruflichen Ausbildungen, des Fachwissens oder der Einstellung zur Arbeit wahrgenommen. Nahezu die Hälfte der Grenzgänger berichtete über Probleme zwischen Kollegen verschiedener Nationalitäten, für die überwiegend die unterschiedlichen Sprachen und verschiedenen Arbeitsweisen ausschlaggebend seien.
Angesichts der Sprachensituation in der Großregion wurde eine begrenzte Sprachenvielfalt auf dem grenzüberschreitenden Arbeitsmarkt festgestellt. Eine Sonderrolle kommt dem mehrsprachigen Großherzogtum zu, das grenzüberschreitende Arbeitnehmermobilität begünstigt, da sich Grenzgänger hier weitgehend in ihrer Muttersprache verständigen können. Gleichwohl wurden Sprachen am häufigsten als Grund für Probleme zwischen Kollegen unterschiedlicher Nationalitäten angeführt. Festgestellt wurde in diesem Zusammenhang, dass verschiedene Sprachkontaktsituationen am Arbeitsplatz auszumachen sind, wie etwa Grenzgänger, die fast ausschließlich in einer Fremdsprache oder in ihrer Muttersprache kommunizieren, und solchen, die weitgehend Situationen der Lingua-franca-Kommunikation bewältigen. Im Hinblick auf die Fremdsprachenkenntnisse wiesen die ins Saarland einpendelnden Grenzgänger aus Lothringen und die in Luxemburg beschäftigten Befragten aus Rheinland-Pfalz besonders ausgeprägte Kompetenzen auf, wobei hier dialektale Ähnlichkeiten eine Rolle spielen. Hinsichtlich des Fremdsprachenerwerbs zeigt sich die Dominanz des informellen Fremdsprachenerwerbs am Arbeitsplatz. Ferner wurde deutlich, dass fremdsprachliche Kommunikation eine höhere Konzentration erfordert bzw. ermüdend wirken kann, die Erwerbstätigkeit aber auch interessanter gestaltet. Die Wahrnehmung von Kommunikationsweisen spiegelte einen indirekt-impliziten Kommunikationsstil wider, der vor allem Franzosen zugeschrieben wird, und einen direkt-expliziten Kommunikationsstil, der besonders deutsche Sprecher charakterisiere.
Insgesamt ist eine positive bis ambivalente Haltung gegenüber Grenzgängern in der Großregion zu beobachten, obgleich sie zum Teil als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt wahrgenommen werden. So wurde die sich abzeichnende Ambivalenz des Status der Grenzgänger als „notwendiges Übel“ bezeichnet, gleichwohl sich im regionalen Vergleich Unterschiede zeigten. In einer ergänzenden Befragung der Luxemburger Wohnbevölkerung wurde die Wahrnehmung der Grenzgänger als Konkurrenten bestätigt, jedoch bleibt die vermeintliche Arbeitsplatzkonkurrenz weniger einem Verdrängungswettbewerb denn vielmehr den nachgefragten Qualifikationen geschuldet. Diese weisen Luxemburger oftmals nur bedingt auf und streben tendenziell gut bezahlte und sichere Arbeitsstellen im (halb-)öffentlichen Sektor an, die ihnen ‚Schutz’ vor der Konkurrenz ausländischer Arbeitskräfte bieten. Vor diesem Hintergrund wurde eine positive Wahrnehmung der Grenzgänger in Luxemburg vor allem hinsichtlich sozio-ökonomischer Aspekte deutlich; negative bzw. ablehnende Haltungen gegenüber den Pendlern wurden eher auf sozio-kulturellem Gebiet artikuliert. Momente der Ungleichbehandlung in der betrieblichen Praxis zeigten sich besonders im Vergleich zu den ansässigen Erwerbstätigen. Ungleichbehandlungen zwischen verschiedenen Grenzgängergruppen nach Nationalitäten scheinen weniger verbreitet zu sein.
Zunächst wurde ein ausgeprägtes Zugehörigkeitsempfinden der Grenzgänger zur lokalen, regionalen und nationalen Ebene ihres ‚Wohnterritoriums’ deutlich; hinsichtlich der übergeordneten Maßstabsebene des Weltbürgers und Europäers bestanden Unterschiede zwischen den in die jeweilige Wohnregion zugezogenen Grenzgängern und den ‚schon immer‘ dort ansässigen Pendlern. Die Zugezogenen empfanden sich stärker als Europäer bzw. als Kosmopoliten, während die Sesshaften sich stärker den subeuropäischen Ebenen zugehörig fühlten. Die geringste Identifikationskraft wiesen die Ebene der Großregion und die jeweilige Arbeitsregion auf. Dies ist vermutlich auf den weitgehend politischen Charakter der Großregion SaarLorLux zurückzuführen, wodurch sie für viele Grenzgänger ein diffuses und abstraktes Gebilde bleibt. Mit Blick auf die Arbeitsregion waren überwiegend raumfragmentierende Praktiken bei Grenzgängern zu beobachten, die auf vorder- bzw. rückseitige Regionalisierungsprozesse verweisen. Ferner wurde deutlich, dass Grenzgänger, die Alltagspraktiken außerhalb des betrieblichen Kontextes in der Arbeitsregion verrichten und hier soziale Kontakte pflegen, tendenziell eine stärkere Zugehörigkeit zur Arbeitsregion und zur Großregion aufweisen als solche, auf die diese Merkmale nicht zutreffen.
Zunächst zeichnete sich ab, dass grenzüberschreitende Arbeitnehmermobilität die sozialen Kontakte von Grenzgängern kaum einschränkt. Vielmehr gewinnen Pendler durch die Tätigkeit als Grenzgänger neue Freunde in der Arbeits- und Wohnregion und verlieren eher keine Freunde in der Wohnregion. Dabei waren regionale Unterschiede auszumachen, die darauf hindeuten, dass die Länge der Fahrt an den Arbeitslatz und eine gemeinsame Sprache bzw. ein gemeinsamer Dialekt für die Entwicklung bzw. Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen eine Rolle spielen. Bei den neu gewonnenen Freunden handelte es sich zumeist um Grenzgänger aus der eigenen Wohnregion, was auf inner- und außerbetriebliche Vergemeinschaftungspraktiken zurückzuführen ist, zu denen betriebliche Parallelgesellschaften, Wohngemeinschaften, Fahrgemeinschaften oder betriebliche Fahrdienste zählen. Ferner begünstigen offenbar formelle und informelle Organisationsformen die Vergemeinschaftung und damit die Entwicklung einer kollektiven Identität der Grenzgänger. Hierfür wurden formelle gewerkschaftliche sowie auf Selbsthilfe basierende Organisationsformen und informelle Vergemeinschaftungspraktiken exemplarisch beleuchtet.
”Insgesamt handelt es sich um eine gelungene, empirisch sehr solide gearbeitete Studie, die für die Mobilitätsforschung relevant ist und Aufschlüsse darüber gibt, bis zu welchem Ausmaß sich in Europa grenzüberschreitende Selbstverständnisse entwickeln konnten.Clemens Zimmermann in Das Historisch-Politische Buch, Jg. 64, Nr. 6, 2013, S. 639.
”What is important from a theoretical point of view is that Wille proposes to investigate social practices from a descriptive and an interpretative perspective. His book shows how this can be done in a convincing way based on a strong and reliable empirical research.Bernhard Köppen in Articulo - Journal of Urban Research [Online], Book Reviews, 2013.
”Those, who are interested in cross-border economic conditions and social processes, especially migration, will find it a book of excellent quality.Tamás Egedy in Yearbook of the European Institute of Cross-Border Studies 2014, S. 163-166.
”Christian Willes Buch ist unbedingt lesenswert. Er wirft einen anderen Blick auf die Grenzgänger. Sie zeichnen sich in seinen Augen durch ihre „Sowohl-als-auch-Präsenz“ in mindestens zwei national verfassten Einheiten aus.Claude Gengler in Hémecht – Revue d’histoire luxembourgeoise. Nr. 3, Jg. 65, 2013, S. 364-367.
”Un livre utile qui enrichit notre connaissance des travailleurs frontaliers et de leur perception des régions frontières.Martial Libera in Jahrbuch des Frankreichzentrums der Universität des Saarlandes, 2015, 314-316.