Zur Figur des Grenzgängers
Die Figur des Grenzgängers interessiert nicht nur, weil die Schweiz und Luxemburg mit 318.000 bzw. 180.000 Grenzgängern heute außergewöhnlich viele Pendler zählen. Der Begriff scheint auch in Mode gekommen zu sein. „Grenzgänger“ ist eine moderne Wortschöpfung, die auf sprachliche Vorläufer wie „Gehen über eine Grenze“ oder „Grenzgang“ zurückgeht. Zur Bestimmung der jeweiligen Gangrichtung wurde zumeist die Zielregion mitgenannt. So war ab dem 17. Jahrhundert z.B. von Hollandgängern oder später von Sachsengängern und Lothringengängern die Rede (Schneider 1998). Die Bezeichnungen verdeutlichen, dass die damaligen Pendelbewegungen nicht vergleichbar sind mit den heutigen Arbeitnehmerströmen: Die Schweiz verzeichnete vor 1914 noch starke Auspendelbewegungen, ebenso wie damals viele Luxemburger noch im benachbarten Frankreich arbeiteten (Wille 2012). Hier zentral erscheint der erwähnte Grenzgang, durch den sich der Pendler vom Grenzüberschreiter oder Grenzwechsler absetzt.
Während Grenzüberschreiter (Eroberer, Entdecker, Pioniere Amerikas) eine Grenze einmalig verrücken oder fortwährend vor sich herschieben und das Jenseitige anzueignen versuchen, siedelt der Grenzwechsler (Emigranten, Konvertiten) dauerhaft oder temporär auf die andere Seite über. Grenzgänger hingegen pendeln unaufhörlich zwischen Dies- und Jenseitigem, lassen die Grenze unangetastet und profitieren von ihrer Membranhaftigkeit. Grenzgänger praktizieren also einen zirkulären Grenzgang, der zwar eine Überschreitung bzw. einen Wechsel einschließt, aber nach nur kurzer Dauer wieder zum Ausgangspunkt zurückführt.
Grenzen als Ressourcen
Über welche Grenzen geht ein Grenzgänger? Zumeist werden nationalstaatliche Grenzen vorausgesetzt, der alltägliche Sprachgebrauch zeichnet aber ein vielfältigeres Bild. Laut Zinnecker (2006: 141) bildet der mobile Arbeitnehmer zunächst die Basisbedeutung des Grenzgängerbegriffs. Angezogen durch Beschäftigungsmöglichkeiten und besseren Verdienst wächst sein Aufkommen ungebrochen und er wird nicht selten als Ressource genutzt, um Konjunkturschwankungen abzufedern. Nach europäischem Gemeinschaftsrecht sind Grenzgänger jene, die ihre Berufstätigkeit in einem EU-Mitgliedsstaat ausüben und in einem anderen wohnen, in den sie in der Regel täglich – mindestens aber einmal wöchentlich – zurückkehren. In der Schweiz wiederum gelten Arbeitnehmer als Grenzgänger, die eine Grenzgängerbewilligung vorweisen und mindestens einmal wöchentlich ins Ausland zurückkehren (Pigeron-Piroth / Wille 2019). Der Unterschied: Schweizer, die im Ausland leben und in der Eidgenossenschaft arbeiten, brauchen keine „permis G“, auch in der Grenzgängerstatistik tauchen sie nicht auf. In der EU hingegen werden auch Arbeitnehmer als Grenzgänger erfasst, die in ihr Herkunftsland zum Arbeiten pendeln. Etwa 5.000 solcher „atypischen Grenzgänger“ zählt Luxemburg.
Die Basisbedeutung des Begriffs ist aber auszuweiten auf Menschen, die in Grenzregionen leben und darauf spezialisiert sind, Grenzen zu überschreiten und für Lebensstrategien zu nutzen (Kohl 2011: 133). Für sie ist die Grenze eine wichtige Ressource, wie Wagner (2011) mit „Schmugglergesellschaft“ zeigt oder Terlouw (2012) es mit „Border Sufers“ auf den Punkt bringt. Letztere sind Grenzraumbewohner, die (vorübergehend) auf beiden Seiten der Grenze zugegen sind und pendeln, um maximal zu profitieren. Sie reiten auf Konjunktur- und Rezensionswellen mit, schöpfen Preisschwankungen zum eigenen Vorteil ab oder ziehen anderweitig Nutzen aus den Differentialen der Grenzlage. Ein Beispiel dafür sind grenzüberschreitende Wohnmigranten, wie etwa die ca. 20.000 Schweizer oder ca. 10.000 Luxemburger, die ins angrenzende Ausland umgezogen sind und oft als (atypische) Grenzgänger im Sinne der Basisbedeutung arbeiten. Sie profitieren von attraktiven Immobilienpreisen und arbeiten dort, wo das Lohnniveau am höchsten liegt.
In einem abstrakteren Sinne dienen Grenzgänger aber auch der Anschauung: etwa für jene, die zwischen verschiedenen Stilrichtungen in Kunst und (Alltags-)Kultur changieren. Ihr Gang über Gattungsgrenzen mündet im Crossover von Musik, Theater, Ernährung oder Lebensstilen. Auch Wissenschaftler werden zunehmend als Grenzgänger herausgefordert, wenn es gilt das Denken in traditionellen Wissenschaftsdisziplinen aufzubrechen ohne diese aufzugeben. Inter- oder Transdisziplinarität sind nur zwei Spielarten des akademischen Grenzgangs. Die Liste der Gänge(r) über mögliche Grenzen ließe sich in weiteren Bereichen fortsetzen: im Sport, Tierreich oder in Wirtschaft und Politik.
Was macht den Grenzgänger nun aber aus? Zunächst ist er unaufhörlich in Bewegung und überschreitet regelmäßig eine Grenze, wobei er diese nicht verrückt. Denn der – wie auch immer geartete – Grenzgänger schafft weder Staatsgrenzen noch Gattungsgrenzen oder Disziplinengrenzen ab. Vielmehr ist er auf sie angewiesen, schöpft er seine Identität doch aus dem Hier-und-Dort. Der Grenzgänger verbindet Dies- und Jenseitiges einer Grenze, richtet sich im Grenzübertritt ein und entfaltet neue Räume: Räume der Grenze (Wille 2012), die sich der eindeutigen Zuordnungen des Hier-oder-Dort entziehen. Solche Interstitien des Crossover oder der Transdisziplinarität bieten Zuflucht für Zwischenkategoriales, sie destabilisieren Gewissheiten, stellen Differenzen infrage, lösen Irritation aber auch Faszination aus. Kurzum: Der Grenzgänger bringt die vertrauten Ordnungen in Unordnung, sorgt für Begegnung und kreativ-produktiven Austausch. Somit ist er keinesfalls als defizitäre Erscheinung eines ambivalenten Sowohl-als-auch zu betrachten, sondern selbst als eine gewinnbringende Ressource für Wandel und Innovation.
Konjunktur des Grenzgängers
Das Phänomen der Grenzgänger im engeren Sinne ist nicht neu. Auch im weiteren Sinne sind sie seit Jahrhunderten bekannt: z.B. als Schamanen oder Künstler zwischen Wirklichkeit und Wahnsinn. Dennoch setzt sich der Begriff erst im 20. Jahrhundert durch, insbesondere in seinen letzten Jahrzehnten. Das kann mit der (selektiven) Durchlässigkeit von Staatsgrenzen oder den wachsenden Mobilitätsoptionen erklärt werden, ebenso wie mit der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Grenzen als Kontaktzonen.
Eine Internetabfrage illustriert die jüngste Konjunktur des Begriffs. Zwar resultiert der Beleg auch aus der fortschreitenden Technologisierung und gesteigerten Jobmobilität, für Zinnecker (2006: 154) ist der Grenzgang aber in erster Linie ein Merkmal des modernen Lebens. Er spricht von einer „Veralltäglichung des Grenzgangs“ und prognostiziert eine zunehmende Auflösung von „gesellschaftlichen Grenzzäunen“. Damit spielt er auf den zivilisatorischen Alltag an, der Grenzen als niedrigschwelliges Angebot ihrer Verletzung und damit ihrer Bestätigung bereithält: der sündige Gang zum Kühlschrank, der Mundraub im Einkaufszentrum, die Schwarzfahrt im Bus u.v.m.
Anders hingegen Krämer (1998), der schon Ende der 1990er Jahre den Grenzgänger als Gegenwartsphänomen bzw. als „spezifische moderne Lebensform“ charakterisiert. Der Soziologe argumentiert mit der Ortsbezogenheit menschlichen Lebens, die in den „bisherigen Gesellschaften“ den Normalfall ausmache, vom Grenzüberschreitenden nun zwar nicht aufgegeben, aber deutlich relativiert werde. Damit angesprochen sind (post-)moderne Raum-Zeit-Verhältnisse, durch die räumlich entfernte Orte zusammenrücken und sich der gelebte Raum über nationale Grenzen aufspannt. Auch Grenzgänger als mobile Arbeitnehmer sind Agenten solcher Prozesse und kreieren transnationale Räume, die sich als grenzüberschreitende Kontaktzonen bestimmen lassen (Wille 2008).
Veränderte Raum-Zeit-Verhältnisse zwingen nicht nur, die Figur des Grenzgängers als „Signatur der Zeit“ (Reuter/Wiesner 2008: 131) anzuerkennen, sondern auch vermeintlich gesetzte Großkategorien zu überdenken: Wie können Nation, Staat oder Gesellschaft erklärt werden, wenn Grenzüberschreitungen und Verflechtungen nicht länger die Ausnahme, sondern die Regel sind? Hier kann der – wie auch immer geartete – Grenzgänger helfen, denn seine Betrachtung hilft aktuelle gesellschaftliche Verhältnisse und Dynamiken besser zu verstehen.
Kohl, Ines, 2011, GrenzgängerInnen. In: Kreff, Fernand; Knoll, Eva-Maria; Gringrich, André (Hg.), Lexikon der Globalisierung. Bielefeld: Transcript-Verlag, 133-137.
Krämer, Hans Leo, 1998, Grenzgänger aus soziologischer Sicht. In: Schneider, Reinhard (Hg.), Grenzgänger. Saarbrücken: Kommissionsverlag, 35-44.
Pigeron-Piroth, Isabelle; Wille, Christian (Hg.), 2019, Les travailleurs frontaliers au Luxembourg et en Suisse: Emploi, Quotidien et Perceptions. UniGR-CBS Borders in Perspective thematic issue 2. DOI: https://doi.org/10.25353/ubtr-xxxx-2824-db4c
Reuter, Julia; Wiesner, Matthias, 2008, Soziologie im Zwischenraum: Grenzen einer transdifferenten Perspektive. In: Allolio-Näcke, Lars; Kalscheuer, Britta (Hg.), Kulturelle Differenzen begreifen. Das Konzept der Transdifferenz aus interdisziplinärer Sicht. Frankfurt am Main: Campus, 129-143.
Schneider, Reinhard, 1998, Die Grenzgängerthematik in historischer Perspektive. In: Schneider, Reinhard (Hg.), Grenzgänger. Saarbrücken: Kommissionsverlag, 9-20.
Terlouw, Kees, 2012, Border Surfers and Euroregions: Unplanned Cross-Border Behaviour and Planned Territorial Structures of Cross-Border Governance. In: Planning Practice & Research, 27 (3), 351-366.
Wagner, Mathias, 2011, Die Schmugglergesellschaft. Informelle Ökonomien an der Ostgrenze der Europäischen Union. Eine Ethnographie. Bielefeld: Transcript-Verlag.
Wille, Christian, 2008, Fremder Alltag? Transnationale soziale Räume von Grenzgängern in der Großregion SaarLorLux. In: Interculture Journal. Zeitschrift für Interkulturelle Studien, 7 (6), 27-52.
Wille, Christian, 2012, Grenzgänger und Räume der Grenze. Raumkonstruktionen in der Großregion SaarLorLux. Frankfurt am Main: Peter Lang.
Zinnecker, Jürgen, 2006, Grenzgänger. Denkweise und Lebensweise der (Post)Moderne? In: Gebhardt, Winfried; Hitzler, Ronald (Hg.), Nomaden, Flaneure, Vagabunden. Wissensformen und Denkstile der Gegenwart. Wiesbaden: VS Verlag, 140-156.