Grenze als Raum

Eine Ordnung in das Feld der Grenze(n) zu bringen, stellt sich bei näherer Betrachtung als ein kaum leistbares Unterfangen heraus, wird der Begriff je nach Erkenntnisinteresse und Disziplin doch sehr unterschiedlich ausbuchstabiert und verwendet. Daran lässt sich ein gewisser Trend zur Untersuchung von – wie auch immer verfassten – Grenzen und ihrer Entstehungsprozesse ablesen, der sich im disziplinären Schnittfeld der Border Studies institutionalisiert.

Innerhalb der Border Studies sind zwei zentrale Untersuchungsperspektiven ausmachen: Im Rahmen einer eher pragmatischen Perspektive werden nationale Grenzen weitgehend als unhinterfragte Setzungen und als strukturierend für die gesellschaftliche Praxis angenommen. Dabei überwiegen Fragen nach der Beschaffenheit und nach den Auswirkungen von nationalen Grenzen. Daneben hat sich eine sozialkonstruktivistische Untersuchungsperspektive etabliert, die Grenzen als (machtvolle) soziale Prozesse der (De-)Markationen auffasst (vgl. z.B. Wille/Reckinger/Kmec/Hesse 2014). Hier richtet sich der Fokus weniger auf institutionell-materiell verfasste Grenzen denn vielmehr auf soziale Praktiken als Modi der Grenzverhandlung. Im Zentrum steht dabei die Frage nach den (Re-)Produktionsprozessen von Grenzen, die auch unter dem Begriff des de-/rebordering (Albert/Brock 1996) thematisiert werden. Beide Forschungsperspektiven stehen allerdings nicht unverbunden nebeneinander, sondern ihre Verknüpfungen sind besonders für Untersuchungen in Grenzregionen relevant, wenn Zusammenhänge zwischen politisch-territorialen Grenzen und sozial-symbolischen Differenzierungen aufgedeckt werden sollen.

Modi der (Re-)Produktion von Grenzen und Wirkungsweisen

Für die sozial-konstruktivistische Untersuchungsperspektive maßgeblich ist die Prozessorientierung, die nicht danach fragt, was eine Grenze ist, sondern wie sie verhandelt wird – d.h., wie sie eingesetzt, verschoben, überschritten oder ausgedehnt wird. Grenzen bzw. Differenzen werden demnach als Ergebnisse von sozialen Prozessen verstanden, womit Grenzen weder vorgängig noch natürlich sein können, sondern immer nur als gemachte und damit als (historisch) kontingent und politisch anzunehmen sind. Modellhaft kann unterschieden werden zwischen drei Wirkungsweisen der (Re-)Produktion von Grenzen (vgl. auch Newman 2011), die sich durchaus überlagern und mit unterschiedlichen Modi im Zusammenhang stehen können.

Einsetzen und Verschieben von Grenzen

Dazu zählt die Wirkungsweise der (1) Trennung und Schließung, die in erster Linie mit dem Einsetzen und Verschieben von Grenzen verknüpft ist. Beiden (Re-)Produktionsmodi gemeinsam ist die Demarkierung vom Anderen, die für das Eigene konstitutiv wird. Die Grenze wird dabei zumeist als Linie im Sinne einer ein- bzw. ausschließenden Differenzmarkierung gedacht.

Überschreiten von Grenzen

Weiter kann die Wirkungsweise der (2) Öffnung und Verbindung unterschieden werden, die mit der Überschreitung von Grenzen im Zusammenhang steht und auf einen Übergang zum Anderen jenseits der (eingesetzten oder verschobenen) Grenze verweist. Auch hier wird in der Regel die Vorstellung einer als Linie verfassten Grenze unterstellt, deren Überschreitung – zumeist im Sinne einer gerichteten Bewegung – eine Verbindung zum Anderen (er-)öffnet.

Ausdehnen von Grenzen

Schließlich ist auf den (Re-)Produktionsmodus der Ausdehnung einzugehen, dessen Wirkungsweise als (3) Liminalisierung umschrieben werden kann. Diese an Victor Turner (2005: 94-127) angelehnte Begrifflichkeit beschreibt die Verflüssigung und Aufhebung von dichotom verfassten  Kategorien (z.B. das Eigene/Andere) – kurz: von Differenz – zugunsten eines nicht markierten Bereichs der Unbestimmtheit und Innovation. Dieser Bereich des Dazwischen impliziert eine Ausdehnung, eine Zone, und damit eine räumliche Dimension der Grenze.

Grenze als Raum untersuchen

Die Vorstellung von Grenze als ein von Liminalität gekennzeichneter Raum ist besonders für Untersuchungen in Grenzregionen geeignet, wenn auf alltagskultureller Ebene (Re-)Produktionen der Grenze im Zusammenhang mit grenzüberschreitender physischer Mobilität betrachtet werden. Damit angesprochen sind empirische Phänomene, die transmigratorische Züge tragen oder im Grenzübertritt ‚verharren‘: z. B. Personen, die regelmäßig und zirkulär eine territoriale Grenze überschreiten, um im Nachbarland einzukaufen, um dort Freizeitaktivitäten nachzugehen oder um dort zu arbeiten (vgl. z. B. Wille 2012). Für solche in vielen europäischen Grenzregionen beobachtbaren Phänomene, die unter dem Terminus ‚Grenzpendler’ rubriziert werden können, spielt die territoriale Grenzlinie zwar in ihrer Durchlässigkeit und als Markierung von politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Systemen eine Rolle.

Für die alltagskulturelle (Re-)Produktion territorialer Grenzen greift die Linienmetapher jedoch zu kurz. Territoriale Grenzen im Kontext von ‚Grenzpendlern’ (re-)präsentieren sich vielmehr als über Bewegung und Praktiken hergestellte Räume des Dazwischen, die sich grenzüberschreitend aufspannen, Differenzen in Bewegung halten und von einer gesteigerten Kontingenz gekennzeichnet sind. Bei ihrer Untersuchung gilt es daher (1) den zonalen Charakter der Grenze und damit die räumlichen Dimension sowie (2) das innovativ-unberechenbare Potential des Liminalen und damit die Kontingenz des Sozialen konzeptionell einzufangen. Geeignete Ansatzpunkte dafür finden sich in der Sozialgeographie und in der Kultursoziologie. Die Verschneidung von raum- und praxistheoretischen Ansätzen aus diesen Disziplinen führt zum Modell Räume der Grenze (Wille 2014), das Grenzen als Räume zu denken erlaubt und ein Instrument für ihre Untersuchung bereitstellt.

Verwendete Literatur

Albert, Mathias/Brock, Lothar (1996): Debordering the World of States: New Spaces in International Relations. In: New Political Science 18 (1), 69-106.

Newman, David (2011): Contemporary Research Agendas in Border Studies: An Overview. In: Wastl-Walter, Doris (Hg.): The Ashgate Research Companion to Border Studies. Farnham, 33-47.

Turner, Victor (2005): Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt/M./New York.

Wastl-Walter, Doris (2011) (Hg.): The Ashgate Research Companion to Border Studies. Farnham.

Wille, Christian (2014): Räume der Grenze. Eine praxistheoretische Perspektive in den kulturwissenschaftlichen Border Studies. In: Elias, Friederike/Franz, Albrecht/Murmann, Henning/Weiser, Ulrich Wilhelm (Hg.): Praxeologie. Beiträge zur interdisziplinären Reichweite praxistheoretischer Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Berlin, De Gruyter, 53-72.

Wille, Christian/Reckinger, Rachel/Kmec, Sonja/Hesse, Markus (2014) (Hg.): Räume und Identitäten in Grenzregionen. Politiken – Medien – Subjekte. Bielefeld.

Wille, Christian (2012): Grenzgänger und Räume der Grenze. Raumkonstruktionen in der Großregion SaarLorLux (Luxemburg-Studien/Etudes luxembourgeoises, Bd. 1). Frankfurt/M.

Wilson, Thomas M./Donnan, Hastings (2012) (Hg): A Companion to Border Studies. Wiley-Blackwell

Wille (2020): Espaces de frontière: penser et analyser la frontière en tant qu’espace. In: Dziub, Nikol (Hg.): Le Transfrontalier. Pratiques et représentations. ÉPURE, 23-50. mehr Info
Wille (2010): « Doing Grande Région » – Espace entre transgression et construction à l'exemple du frontalier. In: Crenn/Deshayes/Kmec (Hg.): La construction des territoires en Europe. Luxembourg et Grande Région : Avis de recherches. PUN, 81-93. mehr Info