Grenzen als horizontale Geographien

Es lohnt sich, zwei Wissenschaftsfelder in einen Dialog zu bringen: die regionale Geographie, die sich verstärkt horizontalen Geographien (Kühne 2024, 2018) zuwendet und die Grenzforschung, die Grenzen zunehmend als komplexe Phänomene untersuchen will (Wille 2024a, 2021). In beiden Wissenschaftsfeldern werden ähnliche methodologisch-analytische Erfordernisse benannt und in Forschungskonzepten operationalisiert, was ein verstärktes Einfordern von synthetisierenden Betrachtungen von Räumen bzw. Grenzen anzeigt.

Während die horizontale Geographie für eine integrierende Befassung mit Räumen oder synthetische Darstellungen raumbezogener Phänomene (Kühne 2024, 2018) steht, werden in der Grenzforschung zunehmend Konzepte nachgefragt, die die Dimensionen, Akteure sowie symbolischen und materiellen Formen von Grenzen in ihrem performativen Zusammenspiel berücksichtigen (Gerst et al. 2018; Weier et al. 2018; Wille 2024a). Der jeweils eingeforderte methodologische Zugang lässt sich als eine synthetisierende Zusammenschau der für Räume bzw. Grenzen konstitutiven Elemente unter Berücksichtigung ihrer Zusammenhänge charakterisieren, die für einen Erkenntnisgewinn über Konstruktionsmechanismen, Transformationsdynamiken und Kontingenzen sorgen soll. Der synthetisierende Zugang will es leisten, die beschreibende Sicht auf Räume bzw. Grenzen als unhinterfragte seiende Entitäten, die die Welt territorial kammern, zu überwinden und in verstehender Absicht die Prozesse ihrer sozialen Produktionen und Wirksamkeiten umfassend(er) zu analysieren.

Solche Zugänge werden in beiden Wissenschaftsfeldern vielfach mit Komplexität begründet: so wird die (gesteigerte) Komplexität der jeweiligen Untersuchungsgegenstände angeführt und mit den darauf reagierenden Konzepten häufig eine Komplexifizierung der Untersuchungsgegenstände vollzogen. Kühne spricht etwa von horizontalen Geographien als „komplexe Gebilde“ (2024, 34) oder als eine „komplexe […] Zusammenschau regional angeordneter Elemente“ (2018, 101), die einen Beitrag „zum Management der Komplexität der Welt“ (2018, 113) leisten können. In der Grenzforschung hat sich die Idee von Grenze als komplexes Phänomen spätestens seit Mitte der 2010er Jahre durchgesetzt (Gerst et al. 2018; Cooper und Tinning 2020; Iossifova 2020; Brambilla 2021; Gerst und Krämer 2021; Wille 2021), woraufhin verschiedene Ansätze mit synthetisierender Absicht vorgelegt wurden (Wille 2024a). Sie geben Anlass, in der Grenzforschung eine gesteigerte Komplexitätsorientierung in der Konstruktion und Untersuchung ihres Gegenstands zu konstatieren.

Die methodologische Konvergenz der beiden Wissenschaftsfelder bildet den Ausgangspunkt des Beitrags „Grenzen als horizontale Geographien? Perspektiven für synthetische Betrachtungen am Beispiel des Complexity Shift in der Grenzforschung“ (Wille 2024b), der Impulse für die Weiterentwicklung und forschungspraktische Umsetzung von synthetischen Betrachtungen setzt. Dafür werden in dem Beitrag die rezenten methodologisch-analytischen Entwicklungen der Grenzforschung vorgestellt, die mit einer erhöhten Aufmerksamkeit für Komplexität für den Trend hin zu synthetischen Betrachtungen stehen. Damit wird am Beispiel der Grenzforschung und des sich dort vollziehenden Complexity Shift (Wille 2024a, 2021) gezeigt, wie synthetische Betrachtungen mit ihren konzeptionellen Annahmen und analytischen Unterscheidungen realisiert werden können, welche Herausforderungen damit verknüpft sind, und welches wissenschaftliche Vokabular mobilisiert werden kann.

Der Beitrag hebt das Potential des Komplexitätsbegriffs für synthetische Betrachtungen hervor und warnt vor unzulässigen Komplexifizierungen in der Konzeption von Räumen und Grenzen.

Literatur

Brambilla, C. (2021). Revisiting ‘bordering, ordering and othering’: an invitation to ‘migrate’ towards a politics of hope. Tijdschrift voor Economische en Sociale Geografie 112 (1), 11–17. doi:10.1111/tesg.12424

Cooper, A. & Tinning, S. (2020). Introduction. In A. Cooper & S. Tinning (Hrsg.), Debating and Defining Borders. Philosophical and Theoretical Perspectives (S. 1–13). London: Routledge.

Gerst, D., Klessmann, M., Krämer, H., Sienknecht, M. & Ulrich, P. (2018). Komplexe Grenzen. Aktuelle Perspektiven der Grenzforschung. Berliner Debatte Initial 29 (1), 3–11.

Gerst, D. & Krämer, H. (2021). Methodologie der Grenzforschung. In D. Gerst, M. Klessmann, H. Krämer (Hrsg.), Grenzforschung. Handbuch für Wissenschaft und Studium (S. 121–140). Baden-Baden: Nomos.

Iossifova, D. (2020). Reading borders in the everyday: bordering as practice. In J. Scott (Hrsg.), A Research Agenda for Border Studies (S. 91–107). Cheltenham: Edward Elgar Publishing.

Kühne, O. (2024). Neopragmatische Annäherungen an horizontale Geographien – zum Stand der Dinge, zu Potentialen und Herausforderungen. In F. Weber, O. Kühne & J. Dittel (Hrsg.), Transformation Processes in Europe and Beyond. Perspectives for Horizontal Geographies (S. 23–48). Wiesbaden: Springer VS.

Kühne, O. (2018). Reboot “Regionale Geographie” – Ansätze einer neopragmatischen Rekonfiguration “horizontaler Geographien”. Berichte. Geographie und Landeskunde 92 (2), 101–121.

Weier, S., Fellner, A. M., Frenk, J., Kazmaier, D., Michely, E., Vatter, C., Weiershausen, R., Wille, C. (2018): Bordertexturen als transdisziplinärer Ansatz zur Untersuchung von Grenzen. Ein Werkstattbericht. Berliner Debatte Initial 29 (1), 73–83.

Wille, C. (2024a). Border Complexities. Outlines and Perspectives of a Complexity Shift in Border Studies. In C. Wille, C. Leutloff-Grandits, F. Bretschneider, S. Grimm-Hamen & H. Wagner (Hrsg.), Border Complexities and Logics of Dis/Order (S. 31–56). Baden-Baden: Nomos.

Wille, C. (2024b). Grenzen als horizontale Geographien? Perspektiven für synthetische Betrachtungen am Beispiel des Complexity Shift in der Grenzforschung. In F. Weber, O. Kühne & J. Dittel (Hrsg.), Transformation Processes in Europe and Beyond. Perspectives for Horizontal Geographies (S. 107–132). Wiesbaden: Springer VS.

Wille, C. (2021). Vom processual shift zum complexity shift: aktuelle analytische Trends der Grenzforschung. In D. Gerst, M. Klessmann & H. Krämer (Hrsg.), Grenzforschung. Handbuch für Wissenschaft und Studium (S. 106–120). Baden-Baden: Nomos.

Wille, Christian (2024): Grenzen als horizontale Geographien? Perspektiven für synthetische Betrachtungen am Beispiel des Complexity Shift in der Grenzforschung. In: Weber/Kühne/Dittel (Hg.): Transformation Processes in Europe and Beyond. Perspectives for Horizontal Geographies. Springer VS, 107-132. mehr Info
Wille, Christian (2024): Border Complexities. Outlines and Perspectives of a Complexity Shift in Border Studies. In: Wille/Leutloff-Grandits/Bretschneider/Grimm-Hamen/Wagner (Hg.): Border Complexities and Logics of Dis/Order. Baden-Baden, Nomos, 31-56. mehr Info