Situative Freizügigkeit und räumliche Fragmentierung

Das Jubiläum solle keine Trauerfeier werden, sondern eine Big Party – so äußerte sich der Luxemburger Innenminister im Januar 2025 zu den bevorstehenden Feierlichkeiten anlässlich der Unterzeichnung des Schengener Übereinkommens. Es hat vor 40 Jahren die schrittweise Abschaffung von Kontrollen an europäischen Binnengrenzen eingeläutet und sich als Erfolgsgeschichte erwiesen. Dem Übereinkommen, das am 14. Juni 1985 zwischen Belgien, Frankreich, Luxemburg, den Niederlanden und der Bundesrepublik Deutschland geschlossen wurde, haben sich bis heute 29 Länder angeschlossen.

Rückkehr von temporären Kontrollen im Schengen-Raum

Fast genau dort, wo das Schengener Übereinkommen damals unterzeichnet wurde, wird nun  wieder kontrolliert. Das „Viadukt von Schengen“ verbindet eine deutsche und luxemburgische Autobahn über den Grenzfluss „Mosel“ hinweg und ist auf deutscher Seite wieder zum Schauplatz von Personenkontrollen geworden. Die Reaktivierung von Kontrollen begründet die Bundesregierung mit anhaltendem Migrationsdruck. Von der Rechtsmäßigkeit der Maßnahme ist Luxemburg jedoch nicht überzeugt und lässt prüfen, ob die Kontrollen juristisch haltbar sind.

Nicht nur Deutschland macht gegenwärtig Gebrauch von der Möglichkeit, „im Falle einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit” vorübergehend Kontrollen an den EU-Binnengrenzen einzuführen. Auch andere Schengen-Länder stützen sich auf Artikel 25 des Schengener Grenzkodex (Regulation, 2016/399) – und dies immer häufiger, um die Binnengrenzen undurchlässiger zu machen. Diese Entwicklung ist seit nunmehr einem Jahrzehnt beobachtbar.

Fluchtbewegungen als Wendepunkt und Normalisierung der Ausnahme

Während Kontrollen an den EU-Binnengrenzen bis 2015 selten waren und meistens nur wenige Tage dauerten, setzte danach eine Wende ein: In 2015 haben mehrere Schengen-Länder – vor allem Deutschland, Österreich und Norwegen – erstmals und vermehrt längerfristige Kontrollen eingeführt in Reaktion auf die Fluchtbewegungen aus Syrien, Afghanistan oder afrikanischen Ländern. Migration, das erfolglose Migrationsmanagement der Europäischen Union, Terroranschläge in Paris (2015) und Brüssel (2016) bildeten zu dieser Zeit den Nährboden für neue Ordnungskonstruktionen, die sich auf Narrative der Überforderung, des Kontrollverlusts und nationalen Selbstbehauptung stützten. Diese Situation, die zunächst als Ausnahmezustand galt, hat rechtspopulistischen Kräften zu mehr Einfluss in Europa verholfen.

Durch die fortlaufende Verlängerung der Kontrollen ab 2017 in Österreich, Deutschland, Frankreich, Norwegen, Dänemark und Schweden wurden sie schleichend normalisiert – nicht zuletzt durch die Ausweitung der dafür angeführten Bedrohungslagen: Migration blieb das Hauptargument und wurde ergänzt um Terrorismusgefahr, Menschenschmuggel und organisierte Kriminalität. Die Jahre 2017 bis 2019 normalisierten die Ausnahme der Vorjahre und bereiteten den Weg für den aufkommenden Border-Spirit an Europas Binnengrenzen.

Abbildung 1: Registrierte Meldungen 2015-2024 über die Wiedereinführung temporärer Kontrollen an den EU-Binnengrenzen nach Ländern mit jeweils angegebenen Bedrohungslagen und Dauer – Daten: EC, 2025 (Stand: 14.01.2025), eigene Auswertung; Entwurf: Christian Wille, Umsetzung: Malte Helfer.

Pandemie als Katalysator und Ausnahme als Regel

Infolge der Verbreitung des Covid-19-Virus‘ vollzog sich im Jahr 2020 eine weitere bespiellose Wiedereinführung von temporären Kontrollen im Schengen-Raum. Innerhalb weniger Wochen wurden drastische Einreisebeschränkungen und Massenkontrollen an den EU-Binnengrenzen durchgesetzt und mit dem Gesundheitsrisiko begründet. Rechtspopulistische Kräfte nutzten die pandemische Situation für Forderungen nach dauerhaften Grenzkontrollen. Die EU-Binnengrenzkontrollen während der Pandemie haben eine gewisse Akzeptanz für Kontrollen geschaffen und einige Schengen-Länder bestärkt, dieses Instrument weiterhin als vermeintlich probate Schutzmaßnahme gegen deklarierte Bedrohungen von außen einzusetzen.

Das spiegeln die verdauerten Binnengrenzkontrollen nach der Pandemie wider, die erneut mit dem Migrationsargument legitimiert wurden. Den Anstoß gab der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine – zwar organisierte die Europäische Union eine solidarische Aufnahme der Flüchtenden, einige Schengen-Länder führten dennoch befristete Binnengrenzkontrollen ein oder verlängerten diese. Dabei wurde der Zustrom von Schutzsuchenden als zentrale Legitimierungsressource systematisch mit Terrorismusgefahr, Bedrohung von sensibler Infrastruktur, Überlastung von Aufnahmekapazitäten sowie Menschenschmuggel und organisierter Kriminalität verknüpft. Dafür ausschlaggebend waren u.a. die Energiekrise, die Angst vor der Sabotage kritischer Infrastruktur, der Hamas-Israel-Krieg ab 2023 sowie hybride Bedrohungen. Rechtspopulistische Parteien verzeichneten in diesem Klima fortdauernder Bedrohung und Krise erneut politische Erfolge.

Situative Freizügigkeit und fortschreitende Fragmentierung des Schengen-Raums

Die Entwicklung der EU-Binnengrenzen (2015-2024) beschreibt eine Verdrängung des Schengen-Spirit, an dessen Stelle ein Border-Spirit tritt. Zwar zählen offene Grenzen und Freizügigkeit weiter zu den politischen Leitbildern der Europäischen Union, jedoch setzen sich zunehmend nationale Grenzregime durch, die an wechselnde Bedrohungslagen angepasst werden. Migration, Terrorismus, Gesundheit und hybride Bedrohungen dienen dabei als diskursive Ressourcen, um eine Schengen-Realität zu rechtfertigen, die nicht mehr für eine Ausnahme, sondern für eine verdauerte und sicherheitsorientierte Ordnung Europas steht.

Wie die Zukunft des Schengen-Regimes in einem Europa aussieht, das sich zwischen globalen Machtverschiebungen behaupten und auf geopolitische Unsicherheiten reagieren muss, ist ungewiss. Ein Zurück zu Schengen von vor 2015 erscheint gegenwärtig genauso unwahrscheinlich wie die Abschaffung der Freizügigkeit in Europa. Die Zukunft des Schengen-Regimes liegt wohl zwischen diesen beiden Szenarien und wird sich vermutlich noch weiter zuspitzen hin zu einer situativen Freizügigkeit. Diese wird sich in einen nachgeschärften Schengener Grenzkodex einschreiben, der zugleich lokalspezifische Modifikationen in Reaktion auf unerwartete Entwicklungen und Herausforderungen flexibel ermöglichen und in der Konsequenz den Schengen-Raum weiter fragmentieren wird.

Referenzen

EC 2025 – European Commission. (2025). Full list of Member States' notifications of the temporary reintroduction of border control at internal borders pursuant to Article 25 et seq. of the Schengen Borders Code. https://home-affairs.ec.europa.eu/policies/schengen-borders-and-visa/schengen-area/temporary-reintroduction-border-control_en (14.01.2025).

Regulation 2016/399 – Regulation (EU) 2016/399 of the European Parliament and of the Council of 9 March 2016 on a Union Code on the rules governing the movement of persons across borders (Schengen Borders Code) (codification). http://data.europa.eu/eli/reg/2016/399/oj (20.01.2025).

Wille (2025): On the Reintroduction of Temporary Controls at EU Internal Borders. Developments and Challenges 40 Years After the Schengen Agreement. UniGR-CBS Working Paper 24. mehr Info