Disziplinenübergreifende Zusammenarbeit
In der Wissenschaft kursieren nur wenige Begriffe mit einer so hohen Diskrepanz zwischen Verwendungshäufigkeit und theoretischer Reflexion wie jener der Interdisziplinarität. Der Blick in die einschlägige Literatur zeigt, dass neben ‚Interdisziplinarität’ weitere und konkurrierende Begriffe existieren, die nicht einheitlich verwendet werden und sich in ihrer Bedeutung z.T. überschneiden. Die Systematisierung von Interdisziplinaritätsbegriffen und verwandten Konzepten steht damit vor einem Abgrenzungsproblem. Daher wird die Bezeichnung ‚disziplinenübergreifende Zusammenarbeit‘ genutzt, um folgende Formen der Zusammenarbeit und ihre Spielarten unter einem Oberbegriff thematisieren zu können:
Der Begriff der Multidisziplinarität kommt in den 1950er Jahren auf und bezeichnet das Nebeneinander von Disziplinen innerhalb eines Themengebiets. Die beteiligten Disziplinen arbeiten hier jeweils zu einem Teilaspekt des gemeinsamen Themengebiets, der innerhalb ‚ihres‘ Gegenstandsbereich angesiedelt ist. Bei dieser Form der Zusammenarbeit sind gemeinsame forschungsleitende Fragestellungen, wechselseitige Bezugnahmen oder disziplinenübergreifende Synthesebemühungen weitgehend abwesend. Dennoch ist in Abgrenzung zu rein disziplinärer Forschung davon auszugehen, dass die Arbeiten der beteiligten Disziplinen mindestens informativ wechselseitig zur Kenntnis genommen werden und eine Erweiterung der Perspektive auf das gemeinsam bearbeitete Themenfeld möglich wird (vgl. Jungert 2010: 2). Synonym zum Begriff der Multidisziplinarität wird häufig jener der Pluridisziplinarität gebraucht. Einige Autor/-innen, so Jungert (vgl. ebd.), unterscheiden jedoch diese Begriffe und sehen in Pluridisziplinarität die erste Stufe einer wahrhaften disziplinenübergreifenden Zusammenarbeit. Dabei geht es um die Intensivierung von Beziehungen zwischen verwandten Disziplinen über einen losen Austausch von Ergebnissen und Problemen innerhalb eines gemeinsamen Themenfelds. Die Gegenstände und Selbstverständnisse der beteiligten Disziplinen bleiben bei dieser unstrukturierten Zusammenarbeit weitgehend unberührt.
Der Begriff ‚Interdisziplinarität’ wird im Zusammenhang mit disziplinenübergreifender Zusammenarbeit am häufigsten genutzt. Dies bestätigt auch die Analyse von Ausschreibungstexten nationaler und europäischer Wissenschaftsförderung (vgl. Wille 2014). Zur Ausleuchtung des Interdisziplinaritätsbegriffs wird die Vielfalt des Konzepts aufgegriffen und versucht eine Binnendifferenzierung vorzunehmen. Mit Löffler (vgl. 2010: 164ff.) und Heckhausen (zitiert in Jungert 2010: 4ff.) wird dafür ein mögliches Spektrum von Interdisziplinaritäten skizziert:
Indiscriminate Interdisciplinarity: Mit dem Begriff der ‚unterschiedslosen Interdisziplinarität‘ umschreibt Heckhausen die Idee des Studium generale, bei dem verschiedene disziplinäre Inhalte nebeneinander ‚gestellt‘ werden, um hoher Spezialisierung und den damit einher gehenden Perspektivverengungen entgegenzuwirken. Wechselseitige Bezugnahmen zwischen den Disziplinen sind hier nicht vorgesehen, ebenso wie im Bereich der Forschung keine disziplinenübergreifende Zusammenarbeit erfolgt.
Nice-to-know-Interdisziplinarität: Löffler prägt den Begriff der ‚Nice-to-know-Interdisziplinarität‘, bei der sich die beteiligten Disziplinen auf ein gemeinsames Thema beziehen, sich jedoch keine Berührungspunkte oder Austauschbeziehungen entwickeln. Dennoch sind Forschungszusammenhänge oder Veranstaltungen mit einem nice-to-know-Faktor nützlich, etwa als soziales Ereignis im Wissenschaftsbetrieb zur Netzwerkpflege oder wenn in Entscheidungsprozessen unterschiedliche Perspektiven auf einen Gegenstand berücksichtigt werden müssen.
Pseudo-Interdisciplinarity: Mit dem Begriff der ‚Pseudo-Interdisziplinarität‘ bezeichnet Heckhausen die verbreitete Annahme, dass schon dann von Interdisziplinarität auszugehen sei, wenn verschiedene Disziplinen mit identischen Modellen und Methoden arbeiten. Dies reiche jedoch nicht aus, um Unterschiede zwischen den Disziplinen zu überbrücken, z.B. im Hinblick auf ‚typische‘ Gegenstandsbereiche oder auf theoretische Integrationsniveaus.
Auxiliary Interdisciplinarity: Als ‚Hilfsinterdisziplinarität‘ bezeichnet Heckhausen den Gebrauch von fachfremden Methoden innerhalb der eigenen Disziplin. Von einer wahrhaften Zusammenarbeit sei hier aber nicht zu sprechen, da es lediglich um die Bearbeitung von ‚typischen‘ Fragestellungen innerhalb der eigenen Disziplin geht unter Zuhilfenahme ‚entliehener‘ Methoden. Kritisch und grundsätzlich zu hinterfragen ist hier, ob Methoden bestimmten Disziplinen zugeordnet werden können.
Composite Interdisciplinarity: Als ‚zusammengesetzte Interdisziplinarität‘ fasst Heckhausen die Gruppierung verschiedener Disziplinen um einen gemeinsamen Problem- bzw. Themenkomplex. Dabei überschneiden sich weder die Gegenstandsbereiche der beteiligten Disziplinen noch die jeweils verwendeten Methoden. Die Kohäsion des gemeinsamen Forschungszusammenhangs sei dann lediglich auf den gemeinsamen Problem- bzw. Themenbereich zurückzuführen.
Supplementary Interdisciplinarity: ‚Ergänzende Interdisziplinarität’ sieht Heckhausen an den ‚Rändern’ von Disziplinen, wo z.T. tatsächlich versucht werde, Beziehungen zwischen den jeweiligen theoretischen Ansätzen herzustellen.
Unifying Interdisciplinarity: Einen hohen Interaktionsgrad zwischen Disziplinen thematisiert Heckhausen unter dem Terminus ‚vereinigende Interdisziplinarität‘. Bezeichnet wird damit die Annäherung und Synthetisierung von unterschiedlichen disziplinären Theorien, Begriffs- und Methodeninstrumentarien.
Dieser kursorische Überblick von Interdisziplinaritäten spricht nicht nur unterschiedliche Aspekte des Forschungsprozesses an, ebenso zeigen sich verschiedene Formen von Disziplinarität, die auf einem Kontinuum zwischen der Affirmation und Subversion von Disziplinengrenzen anzusiedeln sind.
Das Konzept der Transdisziplinarität bezeichnet eine Arbeitsform, bei der mit außeruniversitären Akteuren bestimmte Problemstellungen bearbeitet werden und versucht wird, die Spezialisierung akademischen Wissens zu überwinden (vgl. Jungert 2010: 6). Somit geht es hier erstens um ein Überschreiten der Grenze zwischen Wissenschaft und ‚Außenwelt‘, um für komplexe gesellschaftliche Probleme wissenschaftliche Lösungen zu finden; zweitens ist die Infragestellung der (disziplinären) Ordnung von akademischem Wissen zentral (vgl. Després/Lawrence 2004: 399). Transdisziplinarität impliziert also eine Kritik an Disziplinarität als spezifische Wissenspraxis und zielt auf eine Neugruppierung von Fragestellungen, Theorien und Methoden ohne diese disziplinär rückzubinden (vgl. Maihofer 2005: 199).
Das Konzept der Postdisziplinarität distanziert sich noch deutlicher als jenes der Transdisziplinarität von der Dichotomie der akademischen Wissensproduktion einerseits und der nicht-akademischen Wissensproduktion andererseits. Postdisziplinarität zielt auf einen Forschungsprozess, der sich weder hinsichtlich der Themen und Fragestellungen disziplinär verortet noch bei der Entwicklung von Theorien und Lösungen deduktiv anwendend vorgeht. Vielmehr geht es – ähnlich wie im transdisziplinären Ansatz – um einen induktiv-reflektierenden Prozess, in dem die zu untersuchenden Fragestellungen, verwendeten Methoden und erarbeiteten Theorien bzw. Lösungen generiert werden (vgl. Maihofer 2005: 201).
Aus der Typologie von Multi-/Pluri-, Inter-, Trans- und Postdisziplinarität – als eine Abfolge gesteigerter Komplexität bei nachlassender Disziplinarität – lassen sich drei Grundmodelle der disziplinenübergreifenden Zusammenarbeit ableiten:
Addition: Disziplinenübergreifende Zusammenarbeit als Addition ist als ein Versammeln von unterschiedlichen Disziplinen zu verstehen, die einen gemeinsamen (Untersuchungs-)Gegenstand bearbeiten und sich lediglich informativ austauschen. Bei dieser Wissenschaftspraxis, die der Multi- bzw. Pluridisziplinarität zuzurechnen wäre, findet kein tatsächlicher Austausch und damit keine Überschreitung von disziplinären Grenzen statt.
Interaktion: Disziplinenübergreifende Zusammenarbeit als Interaktion ist dort auszumachen, wo zwischen den – um einen gemeinsamen (Untersuchungs-)Gegenstand gruppierten – Disziplinen ein tatsächlicher Austausch stattfindet und Verbindungen eingegangen werden, ohne dass sich die beteiligten Disziplinen ‚auflösen‘. Hier geht es – wie mit dem Konzept der Interdisziplinarität teilweise angestrebt – um verschiedene Bearbeitungsweisen oder empirische Zugänge zu einer gemeinsamen Forschungsfrage, die miteinander verknüpft werden und einen größeren Erkenntnisfortschritt versprechen, als dies aus nur einer disziplinären Perspektive möglich wäre. Auch wenn hier die jeweiligen Disziplinen weitgehend ‚unangetastet‘ bleiben, ist diese Form der Zusammenarbeit potentiell von krisenhaften Momenten behaftet, die sich in ‚Unordnungen‘ des vertrauten Forschungshandelns äußern und – um diese auszuhalten bzw. produktiv zu wenden – den beteiligten Wissenschaftler/-innen soziale Fähigkeiten abverlangen (vgl. Wiesmann/Biber-Klemm et al. 2008: 174ff.).
Synthese: Disziplinenübergreifende Zusammenarbeit als Synthese zu qualifizieren legt Wissenschaftspraktiken nahe, die disziplinäre und institutionelle Ordnungen problem- bzw. lösungsorientiert überwinden. Ähnlich wie in den Konzepten der Trans-/Postdisziplinarität sind hier (Untersuchungs-)Gegenstände sowie das benötigte Begriffs- und Methodeninstrumentarium nicht vordefiniert, sondern werden in einem deduktiv-rekursiven Verfahren – zumeist unter Einbezug von Nicht-Wissenschaftler/-innen – erarbeitet (vgl. ebd: 172f.). Dies setzt einen intensiven Austausch, eine ausgeprägte Anwendungsorientierung und das Privileg voraus, ohne Rückbindung an reproduktiv-disziplinäre Kommunikationsgemeinschaften (Disziplinen) agieren zu können.
Das abschließend thematisierte Konzept der situativen Interdisziplinarität ist als ein temporäres und variables Ineinandergreifen der Grundmodelle der Addition und Interaktion zu verstehen. Es bietet eine realistische Leitlinie für die disziplinenübergreifende Zusammenarbeit in größeren Kooperationszusammenhängen, ohne Disziplinen auflösen bzw. vertrautes Forschungshandeln der Beteiligten grundsätzlich infrage zu stellen. Vielmehr geht es um das partielle Aufbrechen selbstreferentieller Forschungspraktiken sowie um die produktive Kombination ‚disziplinärer Versatzstücke‘ zugunsten des intellektuellen Austauschs und Erkenntnisfortschritts.
Després, Carole/Lawrence, Roderick J. (2004): „Introduction“, in: Futures 36, S. 397-405.
Heckhausen, Heinz (1987): »Interdisziplinäre Forschung zwischen Intra-, Multi- und Chimären-Disziplinarität«, in: Jürgen Kocka (Hg.), Interdisziplinarität: Praxis – Herausforderung – Ideologie. Berlin: Suhrkamp, S. 129-145.
Jungert, Michael (2010): »Was zwischen wem und warum eigentlich? Grundsätzliche Fragen der Interdisziplinarität«, in: Michael Jungert/Elsa Romfeld/Thomas Sukopp/Uwe Voigt (Hg.), Interdisziplinarität. Theorie, Praxis, Probleme, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 1-11.
Löffler, Winfried (2010): „Vom Schlechten des Guten: Gibt es schlechte Interdisziplinarität?“, in: Michael Jungert/Elsa Romfeld/Thomas Sukopp/Uwe Voigt (Hg.), Interdisziplinarität. Theorie, Praxis, Probleme, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 157-172.
Maihofer, Andrea (2005): »Inter-, Trans- und Postdisziplinarität. Ein Plädoyer wider die Ernüchterung«, in: Heike Kahlert/Barbara Thiessen/Ines Weller (Hg.), Quer denken – Strukturen verändern. Gender Studies zwischen Disziplinen. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 185-202.
Wiesmann, Urs/Biber-Klemm et. al (2008): „Transdisziplinäre Forschung weiterentwickeln: Eine Synthese mit 15 Empfehlungen“, in: Frédéric Darbellay/Theres Paulsen (Hg.), Herausforderung Inter- und Transdisziplinarität. Konzepte, Methoden und innovative Umsetzung in Lehre und Forschung. Lausanne: Presses polytechniques et universitaires romandes, S. 174-179.
Wille, Christian: Methodik und situative Interdisziplinarität. In: Wille, Christian / Reckinger, Rachel / Kmec, Sonja / Hesse, Markus (Hg.): Räume und Identitäten in Grenzregionen. Politiken – Medien – Subjekte. Bielefeld, transcript, 2014, S. 43-63.