Zur Prozessorientierung in der Grenzforschung
Die Grenzforschung erstreckt sich über die Disziplinen der Sozial- und Kulturwissenschaften und umfasst ein breites Erkenntnisinteresse. Ihr ‚undisziplinierter‘ Charakter kommt im englischen ‚Border Studies‘ besser zum Ausdruck, entziehen sich die ‚Studies‘ doch der disziplinären Einordnung per se. Damit verbunden ist das Problem, eine allgemeine Definition des Gegenstandes oder der Forschungsgrundlagen vorzulegen, die einschlägige Einführungstexte jeweils unterschiedlich ausbuchstabieren (z. B. Fellner & Wille, 2025; Gerst et al., 2021; Konrad & Amilhat Szary, 2023; Sevastianov et al., 2015; Wastl-Walter, 2011; Wilson & Donnan, 2012). Konsens besteht aber darüber, dass die Grenzforschung ihren Ausgang spätestens in den 1970er Jahren in den USA genommen hat und spätestens seit den 1990er Jahren in Europa eine rasante Entwicklung erfährt. Dabei wurde sie lange Zeit von der Geographie und Politikwissenschaft dominiert, die heute z. B. von der Soziologie, Geschichte, Anthropologie, Migrationsforschung, Literaturwissenschaft sowie einer Reihe an ‚Studies‘ (z. B. ‚Science and Technology Studies‘, ‚Animal Studies‘, ‚Art Studies‘, ‚European Studies‘ etc.) komplettiert werden.
Ausdifferenzierung der Border Studies
Diese Entwicklung hat zu einer Ausdifferenzierung des Arbeitsfelds geführt: Während sich die ‚Territorial Border Studies‘ vor allem auf internationale, globale und geopolitische Dimensionen von Grenzen konzentrieren, adressieren die ‚Cross-Border Studies‘ lokale und regionale Kontexte in Grenzregionen sowie Fragen grenzüberschreitender Governance. Inspiriert von den ‚Cultural Studies‘ widmen sich die ‚Cultural Border Studies‘ vor allem kulturellen, sozialen, sprachlichen und ästhetischen Dimensionen von Grenzen. Hingegen untersuchen die ‚Critical Border Studies‘ – beeinflusst von den ‚Migration Studies‘ und ‚Surveillance Studies‘ – vor allem Fragen der Machtausübung und Ermächtigung im Kontext von Grenzen. Die Strömungen der Grenzforschung stehen nicht für eine klassische Arbeitsteilung, sondern überschneiden sich und integrieren fortlaufend neue Impulse aus der internationalen Fachdebatte.
Grenzen als Bordering-Prozesse
Ein verbindendes Element ist die Art und Weise, wie Grenzen verstanden werden. Dies zeigt die Rede von ‚bordering‘, die sich in der Grenzforschung seit der Jahrtausendwende durchgesetzt hat und Grenzen als ordnende und geordnete Prozesse umschreibt. Dafür leitend ist die Auffassung, dass Grenzen sowohl veränderbare Produkte als auch Produzentinnen von sozialen und kulturellen Prozessen sind. Die Grenzforschung versteht Grenzen somit nicht länger als unhinterfragte Tatsachen oder seiende Objekte am territorialen Rand, sondern bringt die konzeptuelle ‚Verschachtelung‘ von Ordnung und Grenze, die das englische ‚b/order‘ besser anzeigt, zur Entfaltung: Sie folgt den prozessorientierten Prämissen, dass Grenzen aus sozialen oder kulturellen Ordnungsleistungen hervorgehen, soziale oder kulturelle Ordnungen stiften und solche Prozesse fortlaufend aktualisiert werden (Wille, 2021, S. 108).
Für diesen Perspektivwechsel waren frühe Arbeiten von van Houtum und Kolleg:innen wegweisend, die den Zusammenhang zwischen Grenzziehungen (Bordering), Ordnungsleistungen (Ordering), symbolischen Abgrenzungen (Othering) und Raumproduktionen (Spacing) ausgearbeitet haben (van Houtum & van Naerssen, 2002; van Houtum et al., 2005). Das prozessuale Verständnis von Grenzen hat verschiedene Weiterentwicklungen erfahren, die an anderer Stelle vorgestellt wurden (Wille, 2021; 2024). Hier wird es weiter vertieft, indem Grenzen als Produkte von sozialen und kulturellen Ordnungsleistungen und als Produzentinnnen von sozialen und kulturellen Ordnungen näher betrachtet werden. Dieser doppelte Status steht für zwei Seiten einer Medaille und eröffnet unterschiedliche Zugänge zur Analyse von Bordering-Prozessen.
Grenzen als Produzentinnen von Ordnungen
Werden Grenzen als Produzentinnen von sozialen und kulturellen Ordnungen betrachtet, fokussieren Grenzforschende in der Regel auf Prozesse und Phänomene, die extern zu bereits existierenden Grenzen liegen. Dabei geht es entweder um Effekte, die von Grenzen aufgrund ihrer trennenden und/oder verbindenden Wirkungen ausgehen und – zumeist räumliche, soziale oder kulturelle – Prozesse in Gang setzen. Oder Grenzforschende betrachten soziale und kulturelle Prozesse, die auf schon existierende Grenzen zielen und Effekte zeitigen hinsichtlich ihrer Durabilität oder Permeabilität. Grenzen und Bordering-Prozesse werden hier also nebeneinandergestellt und unterschiedlich aufeinander bezogen. Diese Herangehensweise ist in den ‚Territorial Border Studies‘ und ‚Cross-Border Studies‘ verbreitet, die überwiegend räumliche und politische Dimensionen adressieren. Sie wird von Gerst und Krämer (2021) als ein „Seeing at the border“ bzw. „Seeing across the border“ bezeichnet und leistet es z. B., die Effekte der Personenfreizügigkeit und grenzüberschreitenden Kooperation auf Integrationsprozesse in Grenzregionen als Debordering-Prozesse zu thematisieren. Zugleich ermöglicht diese Herangehensweise, die Effekte von Restriktion und Durabilisierung an den EU-Binnengrenzen als Rebordering-Prozesse zu diskutieren.
Grenzen als Produkte von Ordnungsleistungen
Werden Grenzen hingegen als Produkte von sozialen und kulturellen Ordnungsleistungen verstanden, ist die Frage nach den Effekten der Grenze oder auf die Grenze nachrangig. Forschende beziehen Bordering-Prozesse hier nicht auf eine schon vorausgesetzte Grenze, sondern setzen beide Kategorien in eins. Das Vorgehen beruht auf dem Anliegen, das Entstehen und Umkämpftsein von Grenzen über gesellschaftliche Ordnungsleistungen – verstanden als soziale und kulturelle Prozesse – zu entschlüsseln. Grenzen und Bordering-Prozesse werden hier also nicht nebeneinandergestellt, sondern Grenzen werden selbst als Bordering-Prozesse betrachtet, die eine Grenzhaftigkeit (Green 2012) entfalten – d.h., die z. B. von Körpern, multiplen Akteuren, diskursiven Kategorisierungen getragen werden, sich in Datenbanken oder Grenzbefestigungen materialisieren, um im Zusammenspiel selektiv wirksam zu werden. Diese Betrachtungsweise, die in den ‚Cultural Border Studies‘ und ‚Critical Border Studies‘ verbreitet ist, gibt Aufschluss, wie Bordering-Prozesse organisiert sind (bzw. werden) und funktionieren (sollen). Sie wird von Gerst und Krämer (2021) als ein „Seeing into a border“ oder „Seeing like a border“ bezeichnet und kann z. B. zeigen, wie die EU-Binnengrenzen schleichend, aber stetig zu harten Grenzen (gemacht) werden – genauer: wie Akteure, Diskurse, Technologien u.v.m. angetrieben von Sicherheit-, Wohlstands- oder Identitätslogiken zusammenspielen und über die gemeinsam hervorgebrachten Ordnungen des Wir/Andere oder Innen/Außen selektiv wirksam werden.
Fellner, A. M. & Wille, C. (2025). Cultural Border Studies. In J. Nesselhauf & F. Weber (Hrsg.), Handbuch Kulturwissenschaftliche ‚Studies‘ (S. 47–67). de Gruyter. https://doi.org/10.1515/9783110712919-004
Gerst, D. & Krämer, H. (2021): The multiplication of border methodology. Borders in Perspective 6, 17–26. https://doi.org/10.25353/ubtr-xxxx-e930-87fc
Gerst, D., Klessmann, M. & Krämer, H. (Hrsg.). (2021). Grenzforschung. Handbuch für Wissenschaft und Studium. Nomos.
Green, S. (2012). A Sense of Border. In T. M. Wilson & H. Donnan (Hrsg.), A Companion to Border Studies (S. 573–592). Wiley-Blackwell.
Van Houtum, H., Kramsch, O. & Zierhofer, W. (2005). (Hrsg.). B/ordering Space. Asgate.
Van Houtum, H. & van Naerssen T. (2002). Bordering, ordering and othering. Tijdschrift voor Economische en Sociale Geografie, 93(2), 125–136.
Konrad, V. & Amilhat Szary, A.-L. (2023). Border Culture Theory, Imagination, Geopolitics. Routledge.
Sevastianov, S. V., Laine, J. P. & Kireev, A. A. (Hrsg.). (2015). Introduction to Border Studies. Dalnauka.
Wastl-Walter, D. (Hrsg.) (2011). The Ashgate Research Companion to Border Studies. Farnham.
Wille, C. (2021). Vom processual shift zum complexity shift: aktuelle analytische Trends der Grenzforschung. In D. Gerst, M. Klessmann & H. Krämer (Hrsg.), Grenzforschung. Handbuch für Wissenschaft und Studium (S. 106–120). Nomos.
Wille, C. (2024). Border Complexities. Outlines and Perspectives of a Complexity Shift in Border Studies. In C. Wille, C. Leutloff-Grandits, F. Bretschneider, S. Grimm-Hamen & H. Wagner (Hrsg.), Border Complexities and Logics of Dis/Order (31–56). Nomos. https://doi.org/10.5771/9783748922292-31
Wilson, T. M. & Donnan, H. (2012). Companion to Border Studies. Blackwell.