Grenzüberschreitende Zusammenarbeit
Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit ist ein vergleichsweise junger Forschungsgegenstand mit Anknüpfungspunkten für eine Vielzahl an Erkenntnisinteressen. Ein exakt abgestecktes oder disziplinenähnliches Feld der Kooperationsforschung mit kanonisierten Theorien und Konzepten hat sich daher noch nicht etabliert. Allerdings wächst das Forschungsinteresse seit den 1970er Jahren stetig, es ergreift zunehmend mehr Disziplinen und behauptet sich inzwischen auch in streng disziplinär organisierten Wissenschaftskontexten.
Abgesehen von historischen Vorläufern hat sich die grenzüberschreitende Zusammenarbeit ab Ende der 1950er Jahre entwickelt. Die Kooperationsforschung setzte verzögert in den 1970er Jahren ein. Während Grenzräume hier zunächst als periphere und wirtschaftlich benachteiligte Räume vor allem von Geographen und Raumplanern untersucht wurden, richtete sich das Interesse bald auf die sich abzeichnenden Institutionalisierungsprozesse.
Unter dem Eindruck der fortschreitenden Institutionalisierung wurden in den 1980er Jahren rechtliche Fragen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit virulent – insbesondere in der kommunalen Zusammenarbeit –, die von Juristen bearbeitet wurden. Auch Politik- und Verwaltungswissenschaftler beschäftigten sich zunehmend mit der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, während Geographen sich nun in erster Linie mit den Auswirkungen der Kooperation auf die Raumentwicklung auseinandersetzten. Mit der wachsenden Zahl der an der Kooperationsforschung beteiligten Disziplinen hat sich gegenüber den 1970er Jahren auch ein neues Verständnis der Grenze herauskristallisiert: Sie wurde nunmehr als verbindendes Element aufgefasst, was vermehrt Fragen nach grenzüberschreitenden sozialen Netzwerken, Regionalidentitäten oder interkulturellen Dynamiken aufwarf und in der Folge weitere Disziplinen assoziierte.
Die Kooperationsforschung der 1990er ist von einer fortschreitenden disziplinären Öffnung gekennzeichnet, wobei die Wirtschaftswissenschaften und einsetzenden Verbindungslinien zum europäischen Integrationsprozess maßgeblich waren. Diese Entwicklung bleibt dem europäischen Binnenmarkt (1992) geschuldet, durch dessen Einrichtung die Grenzgebiete deutlich stärker als zuvor als Säulen des europäischen Integrationsprozesses verstanden wurden. Grenzgebiete wurden nun als Räume mit hohem (wirtschaftlichen) Entwicklungspotential aufgefasst, was sich in der in den 1990er Jahre aufgelegten Gemeinschaftsinitiative Interreg, in sich verdichtenden politikwissenschaftlichen Theorien oder in der verstärkten Beschäftigung mit rechtlichen Fragen oberhalb der kommunalen Ebene widerspiegelte. Auch wurden Kooperationen an osteuropäischen Grenzen zunehmend zum Gegenstand der wissenschaftlichen Beschäftigung, wodurch die Zahl der ohnehin entstehenden Fallstudien weiterwuchs.
Ab den 2000er Jahren verfestige sich die Verflechtung von Kooperationsforschung und Arbeiten zum europäischen Integrationsprozess und weitete sich auf die internationalen Beziehungen aus. Auch kann die Kooperationsforschung nach der Jahrtausendwende in wachsendem Maße als multidisziplinär charakterisiert werden, wodurch sich nicht nur der Wissensstand über bestimmte Grenzregionen sukzessiv erweiterte, sondern auch zunehmend vergleichende Arbeiten entstanden.
Der Abriss zur Kooperationsforschung – den Wassenberg (2014), Casteigts (2014) oder Schirmann (2011) ausführlich vorlegen – zeigt zentrale Entwicklungen auf, die um weitere charakteristische Orientierungen des Forschungsfelds ergänzt werden können:
Die Kooperationsforschung – genauer gesagt die Erforschung der grenzüberschreitenden politisch-administrativen Zusammenarbeit – untersucht Kooperationsdynamiken überwiegend vor dem Hintergrund der jeweils in Verbindung stehenden Systeme mit ihren institutionellen Strukturen. Dabei wird ein zumeist hierarchisch organisiertes, funktionales und territorial verankertes Bild des Sozialen vorausgesetzt und auf die Kooperationsdynamik übertragen: „Grenzüberschreitende Gebiete sind Subsysteme, die sich aus der horizontalen Vernetzung […] von funktionalen Teilbereichen der jeweils in Frage stehenden nationalen Referenz-Systeme konstituieren.“ (Beck 2010: 25) Die hier angesprochene horizontale Vernetzung als Moment der Kooperation wird dann über die Konfrontation erschlossen von politischen, ökonomischen, rechtlichen, administrativen, sprachlichen oder kulturellen Systemen bzw. Strukturen, deren Reichweite die jeweilige nationale Grenze markiert (Beck 2010: 25-28). Diese Perspektive kreist in der Regel um die Inkompatibilität der betrachteten Systeme.
Nationale Grenzen und die mit ihnen verbundenen Fragestellungen sind für die Kooperationsforschung objektkonstitutiv. Dabei überwiegt in weiten Bereichen die Vorstellung, dass Systemgrenzen mit Staatsgrenzen ‘naturgemäß’ zusammenfallen, am territorialen Rand von Gesellschaften und als fundamentale Tatsachen existieren (z.B. Casteigts 2014: 310). Diese Sichtweise auf Grenzen erscheint im Lichte der avancierten Grenzforschung allerdings überkommen, werden Grenzen hier doch als Produkte und Produzenten von sozialen Prozessen untersucht.
Vor dem Hintergrund der System- und Strukturorientierung lässt sich in der Kooperationsforschung eine verbreitete Anwendung von kontrastiven Ansätzen ausmachen. Sie bestehen in der Betrachtung von politisch-administrativen Systemen dies- und jenseits einer nationalen Grenze mit dem Ziel, über den Vergleich Unterschiede und Gemeinsamkeiten aufzudecken – die wiederum als Erklärungen für Dynamiken der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit herangezogen werden. Demgegenüber finden auch integrative Ansätze Anwendung, die die grenzüberschreitende Zusammenarbeit weniger aus den beteiligten politisch-administrativen Systemen heraus erklären sollen, sondern auf die zum Teil komplexer erscheinenden Kooperationswirklichkeiten fokussieren. Der Einsatz von integrativen Ansätzen ist in der Kooperationsforschung allerdings (noch) wenig verbreitet und fordert qualitativ angelegte Untersuchungsdesigns ein.
Die Kooperationsforschung ist gekennzeichnet von einer fortschreitenden disziplinären Öffnung, die spätestens ab den 2000er Jahren die Rede von einem multidisziplinären Arbeitsfeld zulässt. Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit als Forschungsgegenstand wird somit zunehmend umfassender erfasst und die Konzepte, Ansätze sowie Erkenntnissen, die das Arbeitsfeld vorweisen kann, vervielfältigen sich. Ihre systematische Erschließung und (programmatische) Aufarbeitung für eine koordinierte und integrierte Forschung steht allerdings noch aus: „An analysis of references shows that there are already lots of unidisciplinary reflections on the phenomenon of […] cross-border cooperation […]. However, no integrated […] interdisciplinary vision has been developed until now.“ (Beck 2014: 342) Dafür ursächlich sind neben institutionellen Fragen z. B. auch disziplinäre Differenzen methodologischer Natur, Differenzen im eingeübten Forschungshandeln sowie die nötigen Anstrengungen, um ein disziplinenübergreifendes Begriffs- und Analyseinstrumentarium auszuhandeln.
Seit den 2000er Jahren sind in der Kooperationsforschung vermehrt vergleichende Arbeiten auszumachen, gleichwohl ist das Feld noch weitgehend von der Anfertigung von Fallstudien gekennzeichnet. Die Einzelfallanalysen beziehen sich zumeist auf Kooperationen in bestimmten Sektoren, Grenzregionen oder sie nehmen ausgewählte Teilaspekte der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in den Blick. Dies kann z.B. auf die jeweils verfügbaren Expertisen, Erkenntnisinteressen, Sprachkompetenzen oder auf die finanzielle Ausstattung der Wissenschaftler zurückgeführt werden. Neben solchen forschungspraktischen Faktoren sind auch methodologische Fragen relevant, wie etwa jene des Vergleichs: Inwiefern können Kooperationen (in ausgewählten Sektoren, Grenzgebieten oder hinsichtlich bestimmter Dynamiken) miteinander verglichen werden? Mit dieser Frage ist das Kriterium der funktionalen Äquivalenz aufgerufen, das in der vergleichenden Kooperationsforschung – wie allgemein in komparativen Untersuchungsdesigns – zu den besonderen Herausforderungen zählt (Roose/Kaden 2017: 38-40).
Seit den 2000er Jahren sind in der Kooperationsforschung Betrachtungen in der Zeit auszumachen, jedoch stehen sie überwiegend im Zusammenhang mit Fragen der europäischen Integration und internationalen Beziehungen. Forschungen zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit im engeren Sinne bleiben weitgehend synchron orientiert. Ausnahmen bilden etwa europäische Betrachtungen (z.B. Schirmann 2011), nationale Betrachtungen (für Frankreich z.B. Marcori/Thoin 2011) oder Betrachtungen in bestimmten Grenzgebieten (für die Großregion SaarLorLux z.B. Evrard 2018; Wille 2012). Für die ‘Geschichtsvergessenheit’ führt Wassenberg (2014) den Umstand an, dass die Kooperationsforschung noch relativ jung ist, Archive – sofern vorhanden – oft nur schwer zugänglich sind, die Zahl der Kooperationen stetig wächst und kaum tatsächliche grenzüberschreitende Institutionen (als Untersuchungsobjekte) existieren.
Über ihren Gegenstand steht die Kooperationsforschung oft mit Akteuren der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Verbindung. Dies kann den Zugang zum empirischen Feld erleichtern und ist oft mit dem Anspruch verknüpft, die Untersuchungsergebnisse unmittelbar in die Kooperationswirklichkeiten zu überführen: „Forschung zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit sollte immer primär angewandte Forschung sein, die in der Lage ist, den in Frage stehenden Akteuren präskriptives Handlungswissen, oder zumindest Handlungsorientierungen […] zu vermitteln.“ (Beck 2010: 33) Die Ergebnisse bzw. ihre Anwendungen sollen dann auf ‘eine bessere Zusammenarbeit’ oder das ‘Generieren von Mehrwerten’ abzielen. Diese normative Orientierung des Forschungsprozesses, die in den meisten Fällen unhinterfragt ‚mitläuft‘, lässt die Ergebnisse nicht unbeeinflusst.
Beck, J. (2010) ‘Grenzüberschreitende Zusammenarbeit als Gegenstand interdisziplinärer Forschung. Konturen eines wissenschaftlichen Arbeitsprogramms‘, in Wassenberg, B. (Hg.), Vivre et penser la coopération transfrontalière (Volume 1): Les régions frontalières françaises, Franz Steiner, Stuttgart, S. 21-33.
Beck, J. (2014): ‘The Future of European Territorial Cohesion. Capacity Building for a New Quality of Cross-Border Cooperation’, in Beck, J. et al. (Hg.), Vivre et penser la coopération transfrontalière (Volume 6) : Vers une cohésion territoriale ?, Franz Steiner, Stuttgart, S. 333-351.
Casteigts, M. (2014) ‘Pour un programme de recherches interdisciplinaire sur les dynamiques transfrontalières et la coopération territoriale’, in: Beck, J. et al. (Hg.), Vivre et penser la coopération transfrontalière (Volume 6): Vers une cohésion territoriale?, Stuttgart, Franz Steiner, S. 305-328.
Evrard, E. (2018) La Grande Région Saar-Lor-Lux: Vers une suprarégionalisation transfrontalière ?, Presses universitaires de Rennes.
Marcori, C. and Thoin, M. (2011) La coopération transfrontalière, La documentation française, Paris.
Roose, J. and Kaden, U. (2017) ‘Three perspectives in borderland research. How borderland studies could exploit its potentiel’, in Opilowska, E. et al. (Hg.), Advances in European Borderlands Studies, Nomos, Baden-Baden, S. 35-45.
Schirmann, S. (2011) ‘La coopération transfrontalière – quelques aspects historiques’, in Wassenberg, B. et al. (Hg.), Vivre et penser la coopération transfrontalière (Volume 4) : les régions frontalières sensibles, Franz Steiner, Stuttgart, S. 55-65.
Wassenberg, B. (2014) ‘Historiographie de la coopération transfrontalière’, in Wassenberg, B. (Hg.), L’approche pluridisciplinaire de la coopération transfrontalière, FARE Cahier No. 5, S. 29-42.
Wille, C. (2012) Grenzgänger und Räume der Grenze. Raumkonstruktionen in der Großregion SaarLorLux, Peter Lang, Frankfurt/M.