Border experiences
Das Konzept der ‚border experiences‘ knüpft an die Idee der Grenze als soziale (Re-)Produktion an sowie an die Einsicht, dass Vorgänge des bordering nicht politisch-institutionellen Akteuren vorbehalten sind. Border experiences macht die Perspektive derjenigen stark, die die Grenze ‘bewohnen’: D.h., die in sie verstrickt sind, mit ihr ‚umgehen‘ und sie hervorbringen. In anderen Worten: die die Grenze über ihre (leiblichen und sinnlichen) Erfahrungen bzw. Sinnproduktionen in und durch Tätigkeiten, Erzählungen, Repräsentationen oder Objekte fortlaufend (de)stabilisieren.
Dabei handelt es sich um eine Betrachtung, die die Aneignungs- und damit Hervorbringungsweisen von Grenzen verstehen will. Dieser Zugang, der die Ereignishaftigkeit von Grenzen ernst nimmt, wird von einigen Autoren mit unterschiedlichen (räumlichen, materiellen, identitären, ästhetischen, sprachlichen, körperlichen u.v.m.) Akzentuierungen diskutiert und/oder praktiziert (Auzanneau/Greco 2018; Considère/Perrin 2017; Boesen/Schnuer 2017; Brambilla 2015; Amilhat Szary/Giraut 2015; Schulze Wessel 2015; Rumford 2012; Wille 2012; Newman 2007; Rösler/Wendl 1999; Martínez 1994).
Diese an Lebenswirklichkeiten orientierte Perspektive steht nicht lediglich für einen Blick auf die Grenze durch die Augen der von ihr ‚Betroffenen‘. Grenz(re)produktionen werden hier über Annäherungen durch die Grenze erschlossen. Dieses methodologische Vorgehen, das Rumford (2012: 895) begrifflich als „seeing like a border“ fasst, bezeichnet das Anliegen, der Grenze in ihre performativen Arenen zu folgen: dorthin, wo sie sich in sozialen und kulturellen Bezügen ‚ereignet‘. Dazu zählen Momente der Repräsentation bzw. Sinnproduktion, die in Tätigkeiten, Diskursen oder Objekten codiert sind und in denen Grenzen relevant (gemacht) werden. Lebenswirklichkeiten stehen für solche Schauplätze der Grenze und verleihen ihr eine (mitunter temporäre) Existenz.
Eine solche Annäherung impliziert ein multiples Verständnis von Grenzen, das die Gesamtheit der Akteure „at, on, or shaping the border“ (Rumford 2012: 897) einschließt und zwangsläufig zu der Einsicht führt, dass „borders […] mean different things to different people, and work differently on different groups“ (Rumford 2012: 894). Diese differenzierende Auffassung beruht auf der Multiplizität von border experiences (Wille/Nienaber 2020; Brambilla 2015; Newman 2007) und räumt der Grenze multiple sowie in der Zeit wandelbare Existenzen ein.
Ob und inwiefern Grenzen durch border experiences Existenzen erlangen bzw. Grenzen in border experiences wirksam (gemacht) werden, bleibt eine empirische Frage. Diese behandeln die Autor_innen des Bands „Border Experiences in Europe“ (Wille/Nienaber 2020) entlang von drei sich überschneidenden Frageperspektiven. Dabei handelt es sich erstens um die Frage, inwiefern Grenzen in und durch Praktiken, Diskurse oder Objekte (re-)produziert werden. Darüber soll für das weite Spektrum alltagskultureller Schauplätze von Grenzen sensibilisiert werden. Weiter wird gefragt, welche sozialen Logiken in solche (Re-)Produktionsprozesse eingelassen sind. Damit werden Sinnstiftungen von alltagskulturellen Grenz(re)produktionen adressiert, die in dem Buch auch als Grenzwissen diskutiert werden. Schließlich wird drittens gefragt, welche Effekte der (Dis-)Kontinuität von Grenzen ausgehen und inwiefern sie für Akteure wirksam (gemacht) werden.
Amilhat Szary, Anne-Laure/Giraut, Frédéric (2015): Borderities: The Politics of Contemporary Mobile Borders. In: Amilhat Szary, A.-L./Giraut, F. (Hg.): Borderities and the Politics of Contemporary Mobile Borders. Basingstoke: Palgrave, S. 1-22.
Auzanneau, Michelle/Greco, Lucas (Hg.) (2018): Dessiner les frontières: une approche praxéologique. Lyon: ENS Editions.
Boesen, Elisabeth/Schnuer, Gregor (Hg.) (2017): European Borderlands. Living with Barriers and Bridges. London/New York: Routledge.
Brambilla, Chiara (2015): Exploring the Critical Potential of the Borderscapes Concept. In: Geopolitics 20, no. 1, S. 14-34.
Considère, Sylvie/Perrin, Thomas (2017): Introduction générale. La frontière en question, ou comment débusquer les représentations sociales des frontières. In: Considère, S./Perrin, T. (Hg.): Frontières et représentations sociales. Questions et perspectives méthodologiques. Paris: l’Harmattan, S. 15-24.
Martínez, Oscar J. (1994): Border People. Life and Society in the U.S.–Mexiko Borderlands. Tucson/London: University of Arizona Press.
Newman, David (2007): The Lines that Continue to Separate Us. Borders in Our “Borderless” World. In: Schimanski, J./Wolfe, S. (Hg.): Border Poetics De-limited. Hannover: Wehrhahn Verlag, S. 27-57.
Rösler, Michael/Wendl, Tobias (Hg.) (1999): Frontiers and Borderlands. Brüssel: Peter Lang.
Rumford, Chris (2012): Towards a Multiperspectival Study of Border. In: Geopolitics 17, no. 4, S. 887-902.
Schulze Wessel, Julia (2015): On Border Subjects: Rethinking the Figure of the Refugee and the Undocumented Migrant. In: Constellations 23, no. 1, S. 46-57.
Wille, Christian (2012): Grenzgänger und Räume der Grenze. Raumkonstruktionen in der Großregion SaarLorLux. Brüssel: Peter Lang.
Wille, Christian/Nienaber, Birte (Hg.) (2020): Border Experiences in Europe. Everyday Life – Working Life – Communication – Languages (Reihe: Border Studies. Cultures, Spaces, Orders, Bd. 1). Baden-Baden: Nomos.