Binnendifferenzierung und processual shift
Während Grenzen in der Diskussion um eine grenzenlose Welt und grenzüberschreitende europäische Integrationsprozesse in den 1990er Jahren eine neue Bedeutung erlangten, werden nun vor allem die jüngeren Rebordering-Prozesse sowohl auf politischer als auch gesellschaftlicher Ebene Grenzen wieder verstärkt relevant. Dazu zählen der Terrorismus der 2000er Jahren mit seinen Sicherheitsnarrativen sowie die Migrationsbewegungen der 2010er Jahre, die gemeinsam zu einer forcierten Digitalisierung der Grenzregime, einer (temporären) Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen und zur Abschottung der Außengrenzen im Sinne einer ‚Festung Europas‘ führten. Weiter sind die aufkommende Euroskepsis und Renationalisierungsprozesse in den Blick zu führen, die im Brexit gipfelten und zuletzt auch den Schengen-Raum während der COVID-19-Pandemie auf eine harte Probe stellten.
Diese Ereignisse haben nicht nur die Forschungsprogramme der Border Studies fortwährend erweitert und herausgefordert, sondern auch strukturelle und konzeptionelle Entwicklungsimpulse gesetzt. So durchläuft das multidisziplinäre Arbeitsfeld dank seiner gewachsenen Bedeutung eine stärkere Institutionalisierung, die sich seit den 2000er Jahren auch in Europa in der Gründung von Forschungseinrichtungen, einschlägigen Netzwerken, Studiengängen oder Lehrmodulen bzw. in der Verankerung in wissenschaftlichen Fachgesellschaften äußert.
Daneben zeichnen sich die Border Studies durch eine fortschreitende Ausdifferenzierung aus, die auf die beteiligten Disziplinen und ihre jeweiligen Erkenntnisinteressen verweist. Zugleich ist eine fortschreitende Integration disziplinärer Zugänge und Interessen zu erkennen. Um die Binnendifferenzierung des Arbeitsfelds zu systematisieren, können drei zentrale Strömungen unterschieden werden, die sich wechselseitig beeinflussen: die (a) Geopolitical Border Studies, die sich vor allem im Zuge der Globalisierungsdebatte der 1990er Jahre entwickelten und die politisch-territoriale Dimension von Grenzen analysieren. Weiter sind die (b) Cultural Border Studies zu nennen, die trotz ihrer Wurzeln in den Cultural Studies und Kulturwissenschaften erst im letzten Jahrzehnt in Europa verstärkt sichtbar wurden. Sie fokussieren die symbolisch-soziale Dimension von Grenzen, die sowohl über populärkulturelle und hochkulturelle Zugänge als auch alltagskulturelle Zugänge erschlossen wird. Schließlich sind die (c) Critical Border Studies zu unterscheiden, die in postkolonialer Manier spätestens seit den 2010er Jahren eine besondere Sensibilität für die Macht- und Hegemonialverhältnisse von Grenzen entwickeln. Sie bevorzugen partizipative Methoden und sind von einem aktivistischen Geist angeleitet, der sie auch mit den Cultural Border Studies verbindet.
In der konzeptionellen und empirischen Auseinandersetzung mit Grenzen ist in den umrissenen Strömungen ab den 2000er Jahren eine Neuorientierung zu beobachten. Danach überwinden Grenzforscher*innen die Vorstellung der fixen und gesetzten Grenzen zugunsten der Auffassung, dass Grenzen sowohl Produkte als auch Produzenten von sozialen Prozessen seien. Diese Betrachtungsweise zielt nicht auf die Grenze als einen ontologischen, linienförmigen und am territorialen Rand lokalisierten Gegenstand, sondern auf die (räumlich, zeitlich und sozial flottierenden) Prozesse der (De-)Stabilisierung von Grenzen – und damit auf ihre gesellschaftlichen Hervorbringungs- und Bearbeitungsweisen, wie sie sich etwa in und durch soziale Praktiken und Diskurse vollziehen.
Dieser processual shift hat sich in den Border Studies mit dem bordering-Ansatz durchgesetzt und verortet Grenzen in der gesellschaftlichen Praxis. Dieser Ansatz erfährt allerdings unterschiedliche heuristische Auslegungen, empirische Anwendungen und konzeptionelle Weiterentwicklungen. Dazu zählen zum Beispiel erweiterte Auffassungen von bordering-Prozessen, die etwa für die Multiplizität von Grenzen und die darin wirksamen Aspekte sensibilisieren und einen multiplen Zugriff auf Grenz(de)stabilisierungen einfordern; oder texturorientierte Betrachtungen, die Grenz(de)stabilisierungen als Effekte des komplexen Zusammenspiels von Tätigkeiten, Diskursen, Objekten, Körpern und Wissen verstehen.
Trotz der Entwicklungen in den Border Studies, die sich in der stärkeren Institutionalisierung, umrissenen Ausdifferenzierung und konzeptionellen Neuorientierung widerspiegeln, bleiben in dem multidisziplinären Arbeitsfeld Fragen unbearbeitet: Wie können bestimmte Disziplinen zu einem integrierten Verständnis von Grenzen beitragen? Wie können Erkenntnisse produktiv miteinander verknüpft werden und in welcher Weise stehen die Border Studies mit anderen Wissenschaftsbereichen in Verbindung? Darüber hinaus besteht ein Desiderat an systematischen und vergleichenden Überlegungen zu den methodologischen Grundlagen der Border Studies und der damit verbundenen Konsequenzen für die Grenzforschung.