Cultural Border Studies – Zur Institutionalisierung eines aufstrebenden Forschungsfelds
Die Cultural Border Studies adressieren Fragen der Grenze auf alltagskultureller und künstlerisch-ästhetischer Ebene. Im Zuge der allgemeinen Renaissance von Grenzen haben sie weiter an Bedeutung gewonnen, was sich in der fortschreitenden Institutionalisierung der Cultural Border Studies zeigt.
Fachgesellschaften
Die wichtigste Fachgesellschaft für Border Studies ist die Association for Borderlands Studies, die 1976 in den USA gegründet zunächst Grenzforschende versammelte, die zur US-mexikanischen Grenze arbeiteten. Im Zuge der Entwicklung der Border Studies schlossen sich Grenzforschende aus allen Teilen der Welt der Fachgesellschaft an. Heute organisiert die Association for Borderlands Studies regelmäßig eine Jahrestagung in Nordamerika und eine Weltkonferenz, die alle vier Jahre stattfindet. Die Weltkonferenz im Jahr 2023 wurde von der Ben-Gurion University im Dreiländereck Israel – Jordanien – Ägypten ausgerichtet. Die Jahrestagungen und Weltkonferenzen der Fachgesellschaft listen in ihren Programmen zunehmend kulturwissenschaftliche Vorträge und Panels und haben sich als zentrale Plattformen für die globale Gemeinschaft der Grenzforschenden etabliert.
Im Gegensatz zur Association for Borderlands Studies ist die Kulturwissenschaftliche Gesellschaft e.V., die als Fachgesellschaft im deutschsprachigen Raum eine wichtige Rolle für die Cultural Border Studies spielt, in Sektionen organisiert. Diese stehen für thematische Arbeitsgruppen, darunter auch die Sektion „Kulturwissenschaftliche Border Studies“, die seit 2016 besteht. Sie wurde auf Initiative von Grenzforschenden der Universität Luxemburg, Universität des Saarlandes und Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) mit dem Ziel gegründet, kulturwissenschaftliche Fragestellungen und Herangehensweisen innerhalb der Border Studies gezielt zu entwickeln und als Arbeitsfeld zu etablieren. Die Sektionsmitglieder treffen sich regelmäßig, kooperieren in Forschungs- und Publikationsprojekten und beteiligen sich an den Jahrestagungen der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft e.V. Im Jahr 2020 fand in Zusammenarbeit mit der Sektion die Jahrestagung „B/Ordering Cultures: Alltag, Politik, Ästhetik“ (8.-10. Oktober) an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) statt.
Forschungszentren und Netzwerke
Hinsichtlich der Forschungszentren und Netzwerke der Border Studies sind die ersten Gründungen im US-mexikanischen Kontext auszumachen (z.B. Center for Latin American and Border Studies (1979), Colegio de la Frontera Norte (1982)), gefolgt von Zentren in Europa in den 1990er Jahren (z.B. Centre for Border Research (1989), Nijmengen Center for Border Research (1998)). Ab der Jahrtausendwende sind vor allem in Europa vermehrt Neugründungen zu beobachten (z.B. Institut des Frontières et Discontinuités (2006), Centre for Border Region Studies (2016)), begleitet von diversen räumlichen Schwerpunktsetzungen (z.B. African Borderlands Research Network (2007), Asian Borderlands Research Network (2008), VERA Centre for Russian and Border Studies (2011)).
Im deutschsprachigen Raum stechen zwei Forschungszentren heraus, die eine dezidiert kulturwissenschaftliche Orientierung aufweisen. Dazu zählt das Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION, das 2013 an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) als Zentrale Wissenschaftliche Einrichtung ins Leben gerufen wurde. Die beteiligten Wissenschaftler:innen der Europa-Universität Viadrina und anderer Universitäten untersuchen dort Grenzziehungs-, Ordnungs- und Migrationsprozesse im interdisziplinären Verbund. Zuletzt haben sie die Konferenzen „Contesting 21st Century B/Orders” (6.-8.9.2023) sowie „B/ORDERS IN MOTION: Current Challenges and Future Perspectives“ (15.-17.11.2018) durchgeführt.
Daneben ist das UniGR-Center for Border Studies zu erwähnen, das 2014 als grenzüberschreitendes Forschungsnetzwerk gegründet und 2022 in ein interdisziplinäres UniGR-Kompetenzzentrum überführt wurde. Dazu zählen die Grenzwissenschaftler:innen des Verbunds „Universität der Großregion (UniGR)“, das heißt der Universität des Saarlandes, Universität Trier, Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau (Deutschland), Universität Lothringen (Frankreich), Universität Luxemburg (Luxemburg) und der Universität Lüttich (Belgien). Ihre Arbeitsschwerpunkte reichen von den Cross-Border Studies (z.B. Arbeitsmarkt und Raumplanung in Grenzregionen) über Cultural Border Studies (z.B. Kultur, Sprache, Identitäten) bis hin zu theoretisch-konzeptionellen Fragen der Grenzforschung.
Die kulturwissenschaftlich orientierten Wissenschaftler:innen des UniGR-Center for Border Studies sind in der Arbeitsgruppe „Bordertextures“ organisiert und erproben einen Ansatz, der Grenzen als ein dynamisches und wirkmächtiges Gefüge fasst. Zuletzt hat das UniGR-Center for Border Studies die internationale Konferenz „Border Renaissance. Recent Developments in Territorial, Cultural and Linguistic Border Studies“ (4.-5.2.2022) und die Europa-Konferenz der Association for Borderlands Studies „Differences and Discontinuities in a ‚Europe without Borders‘“ (04.–07.10.2016) ausgerichtet.
Publikationsmedien
Als einschlägiges Publikationsmedium der Border Studies gilt das Journal of Borderlands Studies, das 1986 in den USA ins Leben gerufen wurde. Nachdem dort überwiegend Ergebnisse der Geopolitical Border Studies publiziert wurden, hat sich die Fachzeitschrift heute auch für kulturwissenschaftliche Fragestellungen und Ansätze geöffnet. Daneben besteht seit 2019 die Open Access-Fachzeitschrift Borders in Globalization Review, die an der University of Victoria, British Columbia im Rahmen des Forschungsprogramms „Borders in Globalization“ eingerichtet wurde und kunst-, kultur- sowie sozialwissenschaftliche Grenzforschung adressiert.
Außerdem haben sich verschiedene Buchreihen etabliert, die über geopolitische Betrachtungen hinausgehen zugunsten kulturwissenschaftlicher Betrachtungen. Dazu zählt die Reihe Routledge Borderlands Studies (hrsg. von James W. Scott und Ilkka Liikanen), die Arbeiten zu grenzüberschreitenden Verflechtungen, Alltagskulturen u.v.m. in Grenzregionen in Nordamerika und Europa, aber auch in Afrika, Asien und Lateinamerika publiziert. Die Reihe Rethinking Borders (hrsg. von Sarah Green und Hastings Donnan) wurde im Zuge des Projekts EastBordNet – Remaking Borders in Eastern Europe (COST 2009-2013) eingerichtet, wird heute von der Manchester University Press herausgegeben und bietet eine Plattform für vorzugsweise ethnografische Forschung, die sich mit dem alltagskulturellen Erleben von Grenzen und Mobilitäten auseinandersetzt.
Im deutschsprachigen Raum hat sich die Buchreihe „Border Studies. Cultures, Spaces, Orders“ (hrsg. von Astrid M. Fellner, Konstanze Jungbluth, Hannes Krämer, Christian Wille) als Forum für Cultural Border Studies etabliert. Sie erscheint auf Deutsch oder Englisch im Nomos-Verlag und umfasst kulturwissenschaftliche Analysen von Grenzen aus literatur- und sprachwissenschaftlicher, soziologischer oder sozialanthropologischer Perspektive.
Auch wenn die Border Studies als interdisziplinäres Arbeitsfeld keinen abgesteckten Kanon an Theorien und Ansätzen aufweisen, sind verschiedene Einführungswerke erschienen. Dazu zählen The Ashgate Research Companion to Border Studies (Wastl-Walter 2011) oder Introduction to Border Studies (Sevastianov et al. 2015), die vor allem die Geopolitical Border Studies adressieren. Kulturwissenschaftliche Orientierungen finden eher Berücksichtigung in A Companion to Border Studies (Wilson und Donnan 2012) oder A Research Agenda for Border Studies (Scott 2020), die jeweils alltagskulturelle Dimensionen von Grenzen einschließen. Mit dem Handbuch Grenzforschung. Handbuch für Wissenschaft und Studium (Gerst et al. 2021) ist im deutschsprachigen Raum die derzeit jüngste Einführung mit kulturwissenschaftlichen Schwerpunkten erschienen.
Borderscapes
Der Ansatz ‚borderscapes’ überwindet das Denken in territorialen Ordnungen und rekonstruiert (De-)Stabilisierungen von Grenzen über das komplexe Zusammenspiel ihrer sozialen Wirksamkeiten und Aushandlungen. ‚Borderscapes‘ überführt Grenzen also in die Landschaften ihrer multiplen Wirksamkeiten, die durchaus an ‚territorialen Ränder‘ beobachtet werden können, aber nicht zwangsläufig. Damit macht der Ansatz ein analytisches Angebot, das sich von territorialen Ordnungen emanzipiert, für die Komplexität von Grenzen sensibilisiert und diese außerdem als Ressourcen betrachtet. Allerdings kann der Ansatz nur schwer auf den Begriff gebracht werden, steht er doch für einen theoretisch-konzeptionellen Rahmen, der Grenzforschende orientiert und Spielräume für Aneignungen und Mehrdeutigkeiten lässt.
Begriff
Der Begriff ‚borderscapes‘ wurde von den Künstlern Gómez-Peña und Sifuentes geprägt, als sie vor zwanzig Jahren die Performance „Borderscape 2000: Kitsch, Violence, and Shamanism at the End of the Century“ (1999) aufführten. Nach der Jahrtausendwende ist der Begriff auch in der Wissenschaft auszumachen, wenn zunächst auch nur vereinzelt (Harbers 2003; Dolff-Bonekämper/Kuipers 2004; dell’Agnese 2005; Strüver 2005). Ab Mitte der 2000er Jahre findet ‚borderscapes’ eine wachsende Verbreitung in der wissenschaftlichen Debatte. Dafür maßgeblich sind die Veröffentlichung des Buchs „Borderscapes: Hidden Geographies and Politics at Territory’s Edge” (Rajaram/Grundy-Warr 2007) und eine Reihe an Konferenzen der International Geographical Union, die den Begriff im Konferenznamen tragen. In den 2010er Jahren setzt eine Popularität des Begriffs ein, die vermutlich auf das Forschungsvorhaben „EUBORDERSCAPES – Bordering, Political Landscapes and Social Arenas: Potentials and Challenges of Evolving Border Concepts in a post-Cold War World” (Euborderscapes 2016) zurückgeht. Aus dem multidisziplinären Projekt (2012-2016) ist eine Vielzahl an wissenschaftlichen Veröffentlichungen hervorgegangen, die den Begriff als einen Ansatz der komplexitätsorientierten Grenzforschung profiliert haben.
Mit den unterschiedlichen Gebrauchsweisen von ‚borderscapes’ sind verschiedene Verständnisse des Begriffs verknüpft, die unterschieden werden können in „Landschaft an der Grenze“, „Landschaft durch die Grenze“ und „Grenze als Landschaft“. Letzteres gilt als das am weitesten verbreitete Verständnis in der Grenzforschung (Krichker 2019: 4) und fasst die Grenze im Anschluss an die „Scapes of Globalization“ von Arjun Appadurai (1996) als eine sich fortwährend wandelnde Landschaft. Der Landschaftsbegriff wird hier metaphorisch zur Beschreibung von dynamischen und transskalaren Verflechtungen gebraucht, die sich zwar räumlich, aber nicht im Mosaik der nationalstaatlichen Ordnung abbilden lassen. ‚Borderscapes‘ in diesem Sinn steht für einen mobilen und relationalen Raum.
Mehrdeutigkeiten
Die Attraktivität von ‚borderscapes‘ resultiert für viele Grenzforscher*innen aus einer gewissen „theoretical and methodological vagueness” (Krichker 2019: 1), die verschiedene Deutungen erlaubt. Dies spiegelt sich zum Beispiel in der Frage wider, inwiefern es sich bei ‚borderscapes‘ um einen Untersuchungsgegenstand oder eine Method(ologi)e handelt. Die Unbestimmtheit zeigt sich nicht nur im diffusen Gebrauch der Begriffe „borderscapes“ und „borderscaping“, genauso wird ‚borderscape‘ variabel als „concept“, „approach“ oder „method“ bezeichnet. Als Untersuchungsgegenstand beruht ‚borderscapes‘ auf einer analytischen Systematisierung als relationale, diffundierte, episodische, perspektivische und umkämpfte Formationen, die mit nationalen Grenzen in Beziehung stehen. Allerdings bleibt ungeklärt, wer oder was (nicht) zu ‚borderscapes‘ zählt und entsprechend (keine) Berücksichtigung in der Analyse findet. Die wenigen Aussagen zu dieser Frage geben kaum Anhaltspunkte, obwohl ihre Bearbeitung einer potentiellen (und teilweise zu beobachtenden) Übergeneralisierung von ‚Grenze‘ entgegenwirken kann.
Mit der Überführung von ‚borderscapes‘ in eine Tätigkeit wiederum verfolgen Grenzforscher*innen unterschiedliche method(olog)ische Anliegen, weshalb ‚borderscaping‘ bei näherer Betrachtung auf verschiedene Aspekte der Grenzforschung abzielt. Hier kann unterschieden werden zwischen ‚borderscaping‘ als Methode der Gegenstandskonstruktion, ‚borderscaping‘ als Methode der Empirie und ‚borderscaping‘ als Methode engagierter Grenzforschung. Letztgenannter geht es darum, das Forschungshandeln als eine „political and performative method” (Brambilla 2021: 85) zu verstehen, die Einsichten in die Komplexität und Umkämpftheit von ‚borderscapes‘ erlaubt mit dem Anliegen, darüber Unsichtbares sichtbar und/oder unterdrückte Existenzen zu Grenzgestalter*innen zu machen. Dieses engagierte Anliegen, das zugleich Grenzforscher*innen zu ‚Landschaftsgestalter*innen‘ macht, ist vom Ansatz „Border as Method“ (Mezzadra/Neilson 2013) inspiriert, dem es um das Wissen über die (vergrenzte) Welt und ihre (Mit-)Gestaltung gleichermaßen geht.
Komplexität
Neben einer kritischen Wissensproduktion will der Ansatz vor allem die Komplexität von Grenzen angemessen berücksichtigen und verstehen. ‚Borderscapes‘ ist dafür zweifelsohne ein geeignetes Instrument. Allerdings ist in der Forschungspraxis und der konzeptionellen Debatte um ‚borderscapes‘ zu beobachten, dass die (erzielten) Aussagen zur Komplexität von Grenzen oft zu kurz greifen. Viele Arbeiten erschöpfen sich darin, möglichst viele Konstituenten von ‚borderscapes‘ in den Blick zu bekommen und diese dann mehr oder weniger isoliert voneinander zu untersuchen. Vernachlässigt werden so die zahlreichen Verweisungszusammenhänge, die nicht nur für das Zusammenspiel der Konstituenten von ‚borderscapes‘ stehen, sondern die Grenze erst zu einem komplexen Gegenstand machen. Denn die emergenten Effekte der Einsetzung oder (De-)Stabilisierung von Grenzen, die von ‚borderscapes‘ ausgehen, sind nicht auf die Konstituenten von ‚borderscapes‘ zurückzuführen, sondern auf ihr komplexes und performatives Zusammenspiel.
Vor diesem Hintergrund soll auf die in der Grenzforschung nicht selten anzutreffende Verwechslung von Komplexität mit Multiplizität aufmerksam gemacht. Die Multiplizität der Grenze, mit der i.d.R. die Vielzahl der relevanten Akteure, Praktiken und Diskurse in ‚borderscapes‘ oder die Vielzahl der Dimensionen der Grenze bezeichnet wird, leistet es nicht, die Komplexität der Grenze zu verstehen. Dafür gilt es sich vielmehr den performativen Prozessen zwischen den relevanten Akteuren, Praktiken, Diskursen oder Dimensionen zuzuwenden, welche Grenz(de)stabilisierungen hervorbringen und über die wechselseitigen Verweisungszusammenhänge erschlossen werden können.
Dell’Agnese, Elena (2005): Bollywood’s Borderscapes. Paper presented at AAG Pre-Conference at the University of Colorado, Boulder, April 3-5.
Dell’Agnese, Elena / Amilhat-Szary, Anne Laure (2015): Introduction: Borderscapes: From Border Landscapes to Border Aesthetics. Geopolitics 20(1), S. 4-13, DOI:10.1080/14650045.2015.1014284
Appadurai, Arjun (1996): Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization. University of Minnesota Press, Minneapolis, Minn.
Brambilla, Chiara (2021): In/visibilities beyond the spectacularisation: young people, subjectivity and revolutionary border imaginations in the Mediterranean borderscape. In: Schimanski, Johan / Nyman, Jopi (Hg.): Border images, border narratives: The political aesthetics of boundaries and crossings. Manchester, Manchester University Press, S. 83-104.
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Euborderscapes (2016): EUBORDERSCAPES – Bordering, Political Landscapes and Social Arenas: Potentials and Challenges of Evolving Border Concepts in a post-Cold War World. Large-Scale Integrating Project FP7-SSH-2011-1-290775, Final Report WP1.
Harbers, Arjan (2003): Borderscapes, The Influence of National Borders on European Spatial Planning. In: R. Brousi, P. Jannink, W. Veldhuis and I. Nio (eds.): Euroscapes. Amsterdam: Must Publishers/Architectura et Amicitia, S. 143-166.
Krichker, Dina (2019): Making Sense of Borderscapes: Space, Imagination and Experience, Geopolitics, DOI: 10.1080/14650045.2019.1683542
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Rajaram, Prem Kumar / Grundy-Warr, Carl (Hg.) (2007): Borderscapes. Hidden Geographies and Politics at Territory’s Edge. Minneapolis/London, University of Minnesota Press.
Strüver, Anke (2005): Stories of the ‘Boring Border’: The Dutch-German Borderscape in People’s Minds. Münster, LIT-Verlag.
Vergrenzungen und Grenz(raum)forschung
Erstmalig seit der Nationenbildung wurden im Jahr 2020 die Grenzen von so vielen Ländern gleichzeitig geschlossen. Dieses Ereignis kann als (vorläufiger) Höhepunkt einer ganzen Reihe an territorialen (Selbst-)Versicherheitlichungen betrachtet werden, welche die in den 1990er Jahren aufgekommene Idee der „Borderless World“ (Ohmae 1990) erheblich in Zweifel zieht. Denn während damals unter dem Eindruck des sich ausbreitenden Internets, Falls des Eisernen Vorhangs, der wachsenden Mobilität oder globalen Klima- und Umweltfragen territoriale Grenzen scheinbar an Bedeutungen verloren, ist seit einigen Jahrzehnten eine Renaissance von Grenzen augenfällig. Sie geht vor allem auf jüngere gesellschaftliche und politische Entwicklungen zurück, wie der plötzliche Anstieg terroristischer Anschläge in den 2000er Jahren oder die immer deutlicher werdende Krise des Migrationsmanagements durch die westlichen Staaten. Sie haben nicht nur die forcierte Digitalisierung der Grenzregime, temporäre Wiedereinführung von Grenzkontrollen im Schengen-Raum oder die Abschottung der EU-Außengrenzen bewirkt, sondern auch zu einer Vervielfältigung von Grenzanlagen geführt (Vallet 2019; Benedicto et al. 2020).
Zeitalter der Vergrenzungen
Diese Entwicklungen legen nahe, dass wir in ein Zeitalter der Vergrenzungen eingetreten sind. Auch die Grenz(raum)forschung reagiert darauf und arbeitet mit Konzepten, die Grenzen in gesellschaftlichen Prozessen aufspüren und somit das Augenmerk zunehmend umlenken von den territorialen Rändern hin zu jenen gesellschaftlichen ‚Schauplätzen‘, an denen Grenzen als Einsetzungen, Stabilisierungen, Infragestellungen oder Verschiebungen virulent (gemacht) werden (Wille 2021). Bei der Beschäftigung mit solchen ‚Schauplätzen‘ der Grenz(de)stabilisierung sind zwei Tendenzen auszumachen: Während die Grenzforschung unter dem Eindruck der Fluchtbewegungen und Migrationsforschung vor allem auf die Mobilität von Grenzen und ihre Einsetzung, Stabilisierung sowie Unterwanderung fokussiert, interessiert sich die Grenzraumforschung – angeleitet vom Ideal eines Europa ohne Grenzen – besonders für das Geschehen an den territorialen Rändern innerhalb der EU und für die Destabilisierung ihrer Trennwirkungen. Diese Orientierung ist spätestens seit den 1980er Jahren festzustellen, in denen rechtliche Fragen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit wichtiger wurden und sich das Verständnis der EU-Binnengrenzen von sogenannten ‚trennenden Narben der Geschichte‘ hin zu ‚verbindenden Nahtstellen‘ wandelte (Courlet 1988). Diese Auffassung von Grenzen als permeable Brücken festigte sich in den 1990er Jahren im fortschreitenden Integrationsprozess, in dem Grenzregionen fortan eine wichtige Rolle spielten (Ruge 2003). Die politische Bedeutung von Grenzregionen, die auch im Zuge der Erweiterungswellen fortbesteht, schlägt sich in der Grenzraumforschung bis heute nieder. Sie ist eng verflochten mit dem politischen Projekt der europäischen Integration, was den Fokus auf Destabilisierungsprozesse, auf die Permeabilität von Grenzen und die normative Orientierung der zahlreichen (und oft unverbundenen) Untersuchungen einzelner territorialer EU-Binnenangrenzungen erklärt (Wille et al. 2019).
Vergrenzungen in Grenzregionen
Vor diesem Hintergrund scheint es geradezu so, als sei die europäische Grenzraumforschung von globalen Entwicklungen, die ein Zeitalter der Vergrenzungen eingeläutet haben, überholt worden. Dieser Eindruck erhärtet sich im Lichte der vertrauten Leitidee eines Europa ohne Grenzen, die mit Brexit, wachsender Euroskepsis und einem immer kostspieligeren EU-Grenzregime erheblich an Strahlkraft eingebüßt hat (Klatt 2020; Bürkner 2020; Yndigegn 2020). Sie wurde im Jahr 2015 außerdem erstmals frappierend in Zweifel gezogen, als einige EU-Mitgliedstaaten unter dem Eindruck der Fluchtbewegungen und Terroranschläge in Paris und Brüssel wieder Grenzkontrollen einführten. Fünf Jahre später werden die EU-Binnengrenzen erneut reaktiviert, allerdings deutlich drastischer, flächendeckender und vor einer neuen Kulisse der (Un-)Sicherheit. Denn während im Jahr 2015 Sicherheit unter Verweis auf das Fremde als „emotionalen Beheimatung“ (Schwell 2021) hergestellt wurde, werden die Versicherheitlichungen des Eigenen im Jahr 2020 über das äußere Virus legitimiert. Angesprochen ist damit das bis dahin beispiellose „Covidfencing“, womit Medeiros et al. (2020) die Grenzschließungen im Zuge der SARS-CoV-2-Epidemie auf den Begriff bringen. Von den EU-Mitgliedern schloss Slowenien am 11. März als erstes seine Grenze, am 14. März folgte Dänemark und bis Ende des Monats führten alle weiteren EU-Staaten – mit Ausnahme von Luxemburg, Irland, Niederlande und Schweden – einschneidende Einreisebeschränkungen an ihren Grenzen ein. Während die Chronologie der Grenzschließungen inzwischen gut dokumentiert ist (z. B. Reitel et al. 2020; Carrera et al. 2020), hat die Aufarbeitung der Covidfencing-Prozesse im Schengen-Raum erst begonnen. Dazu zählen die Vorschläge für ein verbessertes grenzüberschreitendes Krisenmanagement (Coatleven et al. 2020), für Strategien zur gemeinsamen Bewältigung der sozioökonomischen Covid-19-Auswirkungen (Medeiros et al. 2020) oder kritische Betrachtungen des hastigen Covidfencing hinsichtlich seiner Effizienz zur Eindämmung des Virus (Eckardt et al. 2020).
Ein bislang noch vernachlässigter Aspekt der Covidfencing-Aufarbeitung betrifft den temporär vergrenzten Alltag der Einwohner*innen von Grenzregionen und seine mittel- bis langfristigen Auswirkungen. Denn abgesehen von einigen episodischen Einblicken (Wille et al. 2020; Ulrich et al. 2020; BIG-Review 2020) in das Erleben der Grenzschließungen liegen noch keine umfassenden Untersuchungen der grenzregionalen Lebenswirklichkeiten als ‚Schauplätze‘ von Ver- bzw. Entgrenzungen vor. Die Brisanz der lebensweltlichen Dimension des Coronafencing hat sich in der Großregion SaarLorLux besonders an der deutsch-französischen Grenze im April und an der deutsch-luxemburgischen Grenze im September im Zusammenhang mit grenzüberschreitenden Arbeits- und Freizeitpendlern gezeigt. Damit angesprochen sind die längst überkommen geglaubten Ressentiments gegenüber den ‚vertrauten Fremden‘ jenseits der Grenze, deren Artikulation die Presse zugespitzt als „Corona-Rassismus“ (Drobinski 2020) bezeichnete. Vergrenzungen im Zuge der Pandemie wurden hier also nicht nur über strikt filternde Kontrollen manifest, sondern genauso kann der beobachtete Rückzug ins Eigene – als Wechselwirkung der Abgrenzung vom Anderen – als ‚Schauplatz‘ des Coronafencing qualifiziert werden. Welche genaue Verbreitung solche Mechanismen der (Selbst-)Versicherheitlichung in europäischen Grenzregionen fanden, darüber liegen keine Informationen vor. In der Großregion SaarLorLux jedenfalls wurde das lebensweltliche Coronafencing auf politischem Parkett scharf verurteilt und der grenzüberschreitende Schulterschluss (Hans et al. 2020) zur Entkräftung der beobachteten „VerAnderungen“ (Reuter 2002) medienwirksam demonstriert.
Grenzraumforschung im Zeitalter der Vergrenzungen
Die angerissenen Logiken von Vergrenzungen, die Eindeutigkeiten und Sicherheiten über äußere Referenzsubjekte erzeugen (Terroristen, Virus, verAnderte Nachbarn), illustrieren die Dynamik und Komplexität von Grenzziehungsprozessen, wie sie bislang in erster Linie von der Grenzforschung thematisiert werden. Ebenso vor allem in der Grenzforschung zu verorten ist das Umkämpftsein von Grenzen und damit die Frage, wer sich in welcher Weise mit welchen Interessen und Effekten an Ver- und Entgrenzungsprozessen beteiligen kann und beteiligt (Parker et al. 2012). Besonders im Fokus stehen dabei zivilgesellschaftliche Akteure mit ihren aktivistischen bzw. artivistischen Aktionen als ‚Schauplätze‘ der politischen Intervention (Giudice et al. 2015; Amilhat Szary 2012). In Reaktion auf die geschlossenen Schengen-Grenzen waren solche Interventionen im Jahr 2020 auch in europäischen Grenzregionen auszumachen (Wille 2020), die mit zivilgesellschaftlichen Anfechtungen von Grenzen in der Regel kaum Erfahrungen haben.
Diese Aktionen werden in der Grenzraumforschung bislang weder im Kontext von Covidfencing-Prozessen noch anderweitig berücksichtigt. Die europäische Grenzraumforschung ist aber gut beraten, sich angesichts der skizzierten und vermutlich zu erwartenden Entwicklungen fortan stärker auch mit den Prozessen der Einsetzung und Stabilisierung von Grenzen, aber genauso mit ihren Unterwanderungen und Anfechtungen, zu beschäftigen, ist das Zeitalter der Vergrenzungen doch nun auch bis zum Nukleus der Europäischen Integration – in die Grenzregionen – vorgedrungen. Eine solche Erweiterung um den Aspekt der Durabilität von Grenzen bedeutet für die europäische Grenzraumforschung allerdings nicht, ihren normativen Anspruch fallen lassen zu müssen oder sich vom politischen Projekt der Integration und der mit ihm verbundenen Leitideen zu emanzipieren. Vielmehr sollte eine zeitgemäße Perspektivweitung vollzogen werden, die ‚Schauplätze‘ und Dynamiken der Grenz(de)stabilisierung in Grenzregionen adäquat erfasst und darüber nunmehr auch Vergrenzungsprozesse an den EU-Binnengrenzen besser verstehbar macht. Inwiefern sich die europäische Grenzraumforschung dabei von der interdisziplinären Grenzforschung inspirieren lassen kann und lässt, wird die Zukunft zeigen.
Amilhat Szary, A.-L. (2012). Walls and Border Art: The Politics of Art Display. Journal of Borderlands Studies 27: 2, 213-228. doi: 10.1080/08865655.2012.687216.
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Themenheft Identities + Methodologies of Border Studies
Binnendifferenzierung und processual shift
Während Grenzen in der Diskussion um eine grenzenlose Welt und grenzüberschreitende europäische Integrationsprozesse in den 1990er Jahren eine neue Bedeutung erlangten, werden nun vor allem die jüngeren Rebordering-Prozesse sowohl auf politischer als auch gesellschaftlicher Ebene Grenzen wieder verstärkt relevant. Dazu zählen der Terrorismus der 2000er Jahren mit seinen Sicherheitsnarrativen sowie die Migrationsbewegungen der 2010er Jahre, die gemeinsam zu einer forcierten Digitalisierung der Grenzregime, einer (temporären) Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen und zur Abschottung der Außengrenzen im Sinne einer ‚Festung Europas‘ führten. Weiter sind die aufkommende Euroskepsis und Renationalisierungsprozesse in den Blick zu führen, die im Brexit gipfelten und zuletzt auch den Schengen-Raum während der COVID-19-Pandemie auf eine harte Probe stellten.
Diese Ereignisse haben nicht nur die Forschungsprogramme der Border Studies fortwährend erweitert und herausgefordert, sondern auch strukturelle und konzeptionelle Entwicklungsimpulse gesetzt. So durchläuft das multidisziplinäre Arbeitsfeld dank seiner gewachsenen Bedeutung eine stärkere Institutionalisierung, die sich seit den 2000er Jahren auch in Europa in der Gründung von Forschungseinrichtungen, einschlägigen Netzwerken, Studiengängen oder Lehrmodulen bzw. in der Verankerung in wissenschaftlichen Fachgesellschaften äußert.
Daneben zeichnen sich die Border Studies durch eine fortschreitende Ausdifferenzierung aus, die auf die beteiligten Disziplinen und ihre jeweiligen Erkenntnisinteressen verweist. Zugleich ist eine fortschreitende Integration disziplinärer Zugänge und Interessen zu erkennen. Um die Binnendifferenzierung des Arbeitsfelds zu systematisieren, können drei zentrale Strömungen unterschieden werden, die sich wechselseitig beeinflussen: die (a) Geopolitical Border Studies, die sich vor allem im Zuge der Globalisierungsdebatte der 1990er Jahre entwickelten und die politisch-territoriale Dimension von Grenzen analysieren. Weiter sind die (b) Cultural Border Studies zu nennen, die trotz ihrer Wurzeln in den Cultural Studies und Kulturwissenschaften erst im letzten Jahrzehnt in Europa verstärkt sichtbar wurden. Sie fokussieren die symbolisch-soziale Dimension von Grenzen, die sowohl über populärkulturelle und hochkulturelle Zugänge als auch alltagskulturelle Zugänge erschlossen wird. Schließlich sind die (c) Critical Border Studies zu unterscheiden, die in postkolonialer Manier spätestens seit den 2010er Jahren eine besondere Sensibilität für die Macht- und Hegemonialverhältnisse von Grenzen entwickeln. Sie bevorzugen partizipative Methoden und sind von einem aktivistischen Geist angeleitet, der sie auch mit den Cultural Border Studies verbindet.
In der konzeptionellen und empirischen Auseinandersetzung mit Grenzen ist in den umrissenen Strömungen ab den 2000er Jahren eine Neuorientierung zu beobachten. Danach überwinden Grenzforscher*innen die Vorstellung der fixen und gesetzten Grenzen zugunsten der Auffassung, dass Grenzen sowohl Produkte als auch Produzenten von sozialen Prozessen seien. Diese Betrachtungsweise zielt nicht auf die Grenze als einen ontologischen, linienförmigen und am territorialen Rand lokalisierten Gegenstand, sondern auf die (räumlich, zeitlich und sozial flottierenden) Prozesse der (De-)Stabilisierung von Grenzen – und damit auf ihre gesellschaftlichen Hervorbringungs- und Bearbeitungsweisen, wie sie sich etwa in und durch soziale Praktiken und Diskurse vollziehen.
Dieser processual shift hat sich in den Border Studies mit dem bordering-Ansatz durchgesetzt und verortet Grenzen in der gesellschaftlichen Praxis. Dieser Ansatz erfährt allerdings unterschiedliche heuristische Auslegungen, empirische Anwendungen und konzeptionelle Weiterentwicklungen. Dazu zählen zum Beispiel erweiterte Auffassungen von bordering-Prozessen, die etwa für die Multiplizität von Grenzen und die darin wirksamen Aspekte sensibilisieren und einen multiplen Zugriff auf Grenz(de)stabilisierungen einfordern; oder texturorientierte Betrachtungen, die Grenz(de)stabilisierungen als Effekte des komplexen Zusammenspiels von Tätigkeiten, Diskursen, Objekten, Körpern und Wissen verstehen.
Trotz der Entwicklungen in den Border Studies, die sich in der stärkeren Institutionalisierung, umrissenen Ausdifferenzierung und konzeptionellen Neuorientierung widerspiegeln, bleiben in dem multidisziplinären Arbeitsfeld Fragen unbearbeitet: Wie können bestimmte Disziplinen zu einem integrierten Verständnis von Grenzen beitragen? Wie können Erkenntnisse produktiv miteinander verknüpft werden und in welcher Weise stehen die Border Studies mit anderen Wissenschaftsbereichen in Verbindung? Darüber hinaus besteht ein Desiderat an systematischen und vergleichenden Überlegungen zu den methodologischen Grundlagen der Border Studies und der damit verbundenen Konsequenzen für die Grenzforschung.
Border experiences
Das Konzept der ‚border experiences‘ knüpft an die Idee der Grenze als soziale (Re-)Produktion an sowie an die Einsicht, dass Vorgänge des bordering nicht politisch-institutionellen Akteuren vorbehalten sind. Border experiences macht die Perspektive derjenigen stark, die die Grenze ‘bewohnen’: D.h., die in sie verstrickt sind, mit ihr ‚umgehen‘ und sie hervorbringen. In anderen Worten: die die Grenze über ihre (leiblichen und sinnlichen) Erfahrungen bzw. Sinnproduktionen in und durch Tätigkeiten, Erzählungen, Repräsentationen oder Objekte fortlaufend (de)stabilisieren.
Dabei handelt es sich um eine Betrachtung, die die Aneignungs- und damit Hervorbringungsweisen von Grenzen verstehen will. Dieser Zugang, der die Ereignishaftigkeit von Grenzen ernst nimmt, wird von einigen Autoren mit unterschiedlichen (räumlichen, materiellen, identitären, ästhetischen, sprachlichen, körperlichen u.v.m.) Akzentuierungen diskutiert und/oder praktiziert (Auzanneau/Greco 2018; Considère/Perrin 2017; Boesen/Schnuer 2017; Brambilla 2015; Amilhat Szary/Giraut 2015; Schulze Wessel 2015; Rumford 2012; Wille 2012; Newman 2007; Rösler/Wendl 1999; Martínez 1994).
Diese an Lebenswirklichkeiten orientierte Perspektive steht nicht lediglich für einen Blick auf die Grenze durch die Augen der von ihr ‚Betroffenen‘. Grenz(re)produktionen werden hier über Annäherungen durch die Grenze erschlossen. Dieses methodologische Vorgehen, das Rumford (2012: 895) begrifflich als „seeing like a border“ fasst, bezeichnet das Anliegen, der Grenze in ihre performativen Arenen zu folgen: dorthin, wo sie sich in sozialen und kulturellen Bezügen ‚ereignet‘. Dazu zählen Momente der Repräsentation bzw. Sinnproduktion, die in Tätigkeiten, Diskursen oder Objekten codiert sind und in denen Grenzen relevant (gemacht) werden. Lebenswirklichkeiten stehen für solche Schauplätze der Grenze und verleihen ihr eine (mitunter temporäre) Existenz.
Eine solche Annäherung impliziert ein multiples Verständnis von Grenzen, das die Gesamtheit der Akteure „at, on, or shaping the border“ (Rumford 2012: 897) einschließt und zwangsläufig zu der Einsicht führt, dass „borders […] mean different things to different people, and work differently on different groups“ (Rumford 2012: 894). Diese differenzierende Auffassung beruht auf der Multiplizität von border experiences (Wille/Nienaber 2020; Brambilla 2015; Newman 2007) und räumt der Grenze multiple sowie in der Zeit wandelbare Existenzen ein.
Ob und inwiefern Grenzen durch border experiences Existenzen erlangen bzw. Grenzen in border experiences wirksam (gemacht) werden, bleibt eine empirische Frage. Diese behandeln die Autor_innen des Bands „Border Experiences in Europe“ (Wille/Nienaber 2020) entlang von drei sich überschneidenden Frageperspektiven. Dabei handelt es sich erstens um die Frage, inwiefern Grenzen in und durch Praktiken, Diskurse oder Objekte (re-)produziert werden. Darüber soll für das weite Spektrum alltagskultureller Schauplätze von Grenzen sensibilisiert werden. Weiter wird gefragt, welche sozialen Logiken in solche (Re-)Produktionsprozesse eingelassen sind. Damit werden Sinnstiftungen von alltagskulturellen Grenz(re)produktionen adressiert, die in dem Buch auch als Grenzwissen diskutiert werden. Schließlich wird drittens gefragt, welche Effekte der (Dis-)Kontinuität von Grenzen ausgehen und inwiefern sie für Akteure wirksam (gemacht) werden.
Amilhat Szary, Anne-Laure/Giraut, Frédéric (2015): Borderities: The Politics of Contemporary Mobile Borders. In: Amilhat Szary, A.-L./Giraut, F. (Hg.): Borderities and the Politics of Contemporary Mobile Borders. Basingstoke: Palgrave, S. 1-22.
Auzanneau, Michelle/Greco, Lucas (Hg.) (2018): Dessiner les frontières: une approche praxéologique. Lyon: ENS Editions.
Boesen, Elisabeth/Schnuer, Gregor (Hg.) (2017): European Borderlands. Living with Barriers and Bridges. London/New York: Routledge.
Brambilla, Chiara (2015): Exploring the Critical Potential of the Borderscapes Concept. In: Geopolitics 20, no. 1, S. 14-34.
Considère, Sylvie/Perrin, Thomas (2017): Introduction générale. La frontière en question, ou comment débusquer les représentations sociales des frontières. In: Considère, S./Perrin, T. (Hg.): Frontières et représentations sociales. Questions et perspectives méthodologiques. Paris: l’Harmattan, S. 15-24.
Martínez, Oscar J. (1994): Border People. Life and Society in the U.S.–Mexiko Borderlands. Tucson/London: University of Arizona Press.
Newman, David (2007): The Lines that Continue to Separate Us. Borders in Our “Borderless” World. In: Schimanski, J./Wolfe, S. (Hg.): Border Poetics De-limited. Hannover: Wehrhahn Verlag, S. 27-57.
Rösler, Michael/Wendl, Tobias (Hg.) (1999): Frontiers and Borderlands. Brüssel: Peter Lang.
Rumford, Chris (2012): Towards a Multiperspectival Study of Border. In: Geopolitics 17, no. 4, S. 887-902.
Schulze Wessel, Julia (2015): On Border Subjects: Rethinking the Figure of the Refugee and the Undocumented Migrant. In: Constellations 23, no. 1, S. 46-57.
Wille, Christian (2012): Grenzgänger und Räume der Grenze. Raumkonstruktionen in der Großregion SaarLorLux. Brüssel: Peter Lang.
Wille, Christian/Nienaber, Birte (Hg.) (2020): Border Experiences in Europe. Everyday Life – Working Life – Communication – Languages (Reihe: Border Studies. Cultures, Spaces, Orders, Bd. 1). Baden-Baden: Nomos.
Grenzüberschreitende Zusammenarbeit
Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit ist ein vergleichsweise junger Forschungsgegenstand mit Anknüpfungspunkten für eine Vielzahl an Erkenntnisinteressen. Ein exakt abgestecktes oder disziplinenähnliches Feld der Kooperationsforschung mit kanonisierten Theorien und Konzepten hat sich daher noch nicht etabliert. Allerdings wächst das Forschungsinteresse seit den 1970er Jahren stetig, es ergreift zunehmend mehr Disziplinen und behauptet sich inzwischen auch in streng disziplinär organisierten Wissenschaftskontexten.
Abgesehen von historischen Vorläufern hat sich die grenzüberschreitende Zusammenarbeit ab Ende der 1950er Jahre entwickelt. Die Kooperationsforschung setzte verzögert in den 1970er Jahren ein. Während Grenzräume hier zunächst als periphere und wirtschaftlich benachteiligte Räume vor allem von Geographen und Raumplanern untersucht wurden, richtete sich das Interesse bald auf die sich abzeichnenden Institutionalisierungsprozesse.
Unter dem Eindruck der fortschreitenden Institutionalisierung wurden in den 1980er Jahren rechtliche Fragen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit virulent – insbesondere in der kommunalen Zusammenarbeit –, die von Juristen bearbeitet wurden. Auch Politik- und Verwaltungswissenschaftler beschäftigten sich zunehmend mit der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, während Geographen sich nun in erster Linie mit den Auswirkungen der Kooperation auf die Raumentwicklung auseinandersetzten. Mit der wachsenden Zahl der an der Kooperationsforschung beteiligten Disziplinen hat sich gegenüber den 1970er Jahren auch ein neues Verständnis der Grenze herauskristallisiert: Sie wurde nunmehr als verbindendes Element aufgefasst, was vermehrt Fragen nach grenzüberschreitenden sozialen Netzwerken, Regionalidentitäten oder interkulturellen Dynamiken aufwarf und in der Folge weitere Disziplinen assoziierte.
Die Kooperationsforschung der 1990er ist von einer fortschreitenden disziplinären Öffnung gekennzeichnet, wobei die Wirtschaftswissenschaften und einsetzenden Verbindungslinien zum europäischen Integrationsprozess maßgeblich waren. Diese Entwicklung bleibt dem europäischen Binnenmarkt (1992) geschuldet, durch dessen Einrichtung die Grenzgebiete deutlich stärker als zuvor als Säulen des europäischen Integrationsprozesses verstanden wurden. Grenzgebiete wurden nun als Räume mit hohem (wirtschaftlichen) Entwicklungspotential aufgefasst, was sich in der in den 1990er Jahre aufgelegten Gemeinschaftsinitiative Interreg, in sich verdichtenden politikwissenschaftlichen Theorien oder in der verstärkten Beschäftigung mit rechtlichen Fragen oberhalb der kommunalen Ebene widerspiegelte. Auch wurden Kooperationen an osteuropäischen Grenzen zunehmend zum Gegenstand der wissenschaftlichen Beschäftigung, wodurch die Zahl der ohnehin entstehenden Fallstudien weiterwuchs.
Ab den 2000er Jahren verfestige sich die Verflechtung von Kooperationsforschung und Arbeiten zum europäischen Integrationsprozess und weitete sich auf die internationalen Beziehungen aus. Auch kann die Kooperationsforschung nach der Jahrtausendwende in wachsendem Maße als multidisziplinär charakterisiert werden, wodurch sich nicht nur der Wissensstand über bestimmte Grenzregionen sukzessiv erweiterte, sondern auch zunehmend vergleichende Arbeiten entstanden.
Der Abriss zur Kooperationsforschung – den Wassenberg (2014), Casteigts (2014) oder Schirmann (2011) ausführlich vorlegen – zeigt zentrale Entwicklungen auf, die um weitere charakteristische Orientierungen des Forschungsfelds ergänzt werden können:
Die Kooperationsforschung – genauer gesagt die Erforschung der grenzüberschreitenden politisch-administrativen Zusammenarbeit – untersucht Kooperationsdynamiken überwiegend vor dem Hintergrund der jeweils in Verbindung stehenden Systeme mit ihren institutionellen Strukturen. Dabei wird ein zumeist hierarchisch organisiertes, funktionales und territorial verankertes Bild des Sozialen vorausgesetzt und auf die Kooperationsdynamik übertragen: „Grenzüberschreitende Gebiete sind Subsysteme, die sich aus der horizontalen Vernetzung […] von funktionalen Teilbereichen der jeweils in Frage stehenden nationalen Referenz-Systeme konstituieren.“ (Beck 2010: 25) Die hier angesprochene horizontale Vernetzung als Moment der Kooperation wird dann über die Konfrontation erschlossen von politischen, ökonomischen, rechtlichen, administrativen, sprachlichen oder kulturellen Systemen bzw. Strukturen, deren Reichweite die jeweilige nationale Grenze markiert (Beck 2010: 25-28). Diese Perspektive kreist in der Regel um die Inkompatibilität der betrachteten Systeme.
Nationale Grenzen und die mit ihnen verbundenen Fragestellungen sind für die Kooperationsforschung objektkonstitutiv. Dabei überwiegt in weiten Bereichen die Vorstellung, dass Systemgrenzen mit Staatsgrenzen ‘naturgemäß’ zusammenfallen, am territorialen Rand von Gesellschaften und als fundamentale Tatsachen existieren (z.B. Casteigts 2014: 310). Diese Sichtweise auf Grenzen erscheint im Lichte der avancierten Grenzforschung allerdings überkommen, werden Grenzen hier doch als Produkte und Produzenten von sozialen Prozessen untersucht.
Vor dem Hintergrund der System- und Strukturorientierung lässt sich in der Kooperationsforschung eine verbreitete Anwendung von kontrastiven Ansätzen ausmachen. Sie bestehen in der Betrachtung von politisch-administrativen Systemen dies- und jenseits einer nationalen Grenze mit dem Ziel, über den Vergleich Unterschiede und Gemeinsamkeiten aufzudecken – die wiederum als Erklärungen für Dynamiken der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit herangezogen werden. Demgegenüber finden auch integrative Ansätze Anwendung, die die grenzüberschreitende Zusammenarbeit weniger aus den beteiligten politisch-administrativen Systemen heraus erklären sollen, sondern auf die zum Teil komplexer erscheinenden Kooperationswirklichkeiten fokussieren. Der Einsatz von integrativen Ansätzen ist in der Kooperationsforschung allerdings (noch) wenig verbreitet und fordert qualitativ angelegte Untersuchungsdesigns ein.
Die Kooperationsforschung ist gekennzeichnet von einer fortschreitenden disziplinären Öffnung, die spätestens ab den 2000er Jahren die Rede von einem multidisziplinären Arbeitsfeld zulässt. Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit als Forschungsgegenstand wird somit zunehmend umfassender erfasst und die Konzepte, Ansätze sowie Erkenntnissen, die das Arbeitsfeld vorweisen kann, vervielfältigen sich. Ihre systematische Erschließung und (programmatische) Aufarbeitung für eine koordinierte und integrierte Forschung steht allerdings noch aus: „An analysis of references shows that there are already lots of unidisciplinary reflections on the phenomenon of […] cross-border cooperation […]. However, no integrated […] interdisciplinary vision has been developed until now.“ (Beck 2014: 342) Dafür ursächlich sind neben institutionellen Fragen z. B. auch disziplinäre Differenzen methodologischer Natur, Differenzen im eingeübten Forschungshandeln sowie die nötigen Anstrengungen, um ein disziplinenübergreifendes Begriffs- und Analyseinstrumentarium auszuhandeln.
Seit den 2000er Jahren sind in der Kooperationsforschung vermehrt vergleichende Arbeiten auszumachen, gleichwohl ist das Feld noch weitgehend von der Anfertigung von Fallstudien gekennzeichnet. Die Einzelfallanalysen beziehen sich zumeist auf Kooperationen in bestimmten Sektoren, Grenzregionen oder sie nehmen ausgewählte Teilaspekte der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in den Blick. Dies kann z.B. auf die jeweils verfügbaren Expertisen, Erkenntnisinteressen, Sprachkompetenzen oder auf die finanzielle Ausstattung der Wissenschaftler zurückgeführt werden. Neben solchen forschungspraktischen Faktoren sind auch methodologische Fragen relevant, wie etwa jene des Vergleichs: Inwiefern können Kooperationen (in ausgewählten Sektoren, Grenzgebieten oder hinsichtlich bestimmter Dynamiken) miteinander verglichen werden? Mit dieser Frage ist das Kriterium der funktionalen Äquivalenz aufgerufen, das in der vergleichenden Kooperationsforschung – wie allgemein in komparativen Untersuchungsdesigns – zu den besonderen Herausforderungen zählt (Roose/Kaden 2017: 38-40).
Seit den 2000er Jahren sind in der Kooperationsforschung Betrachtungen in der Zeit auszumachen, jedoch stehen sie überwiegend im Zusammenhang mit Fragen der europäischen Integration und internationalen Beziehungen. Forschungen zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit im engeren Sinne bleiben weitgehend synchron orientiert. Ausnahmen bilden etwa europäische Betrachtungen (z.B. Schirmann 2011), nationale Betrachtungen (für Frankreich z.B. Marcori/Thoin 2011) oder Betrachtungen in bestimmten Grenzgebieten (für die Großregion SaarLorLux z.B. Evrard 2018; Wille 2012). Für die ‘Geschichtsvergessenheit’ führt Wassenberg (2014) den Umstand an, dass die Kooperationsforschung noch relativ jung ist, Archive – sofern vorhanden – oft nur schwer zugänglich sind, die Zahl der Kooperationen stetig wächst und kaum tatsächliche grenzüberschreitende Institutionen (als Untersuchungsobjekte) existieren.
Über ihren Gegenstand steht die Kooperationsforschung oft mit Akteuren der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Verbindung. Dies kann den Zugang zum empirischen Feld erleichtern und ist oft mit dem Anspruch verknüpft, die Untersuchungsergebnisse unmittelbar in die Kooperationswirklichkeiten zu überführen: „Forschung zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit sollte immer primär angewandte Forschung sein, die in der Lage ist, den in Frage stehenden Akteuren präskriptives Handlungswissen, oder zumindest Handlungsorientierungen […] zu vermitteln.“ (Beck 2010: 33) Die Ergebnisse bzw. ihre Anwendungen sollen dann auf ‘eine bessere Zusammenarbeit’ oder das ‘Generieren von Mehrwerten’ abzielen. Diese normative Orientierung des Forschungsprozesses, die in den meisten Fällen unhinterfragt ‚mitläuft‘, lässt die Ergebnisse nicht unbeeinflusst.
Beck, J. (2010) ‘Grenzüberschreitende Zusammenarbeit als Gegenstand interdisziplinärer Forschung. Konturen eines wissenschaftlichen Arbeitsprogramms‘, in Wassenberg, B. (Hg.), Vivre et penser la coopération transfrontalière (Volume 1): Les régions frontalières françaises, Franz Steiner, Stuttgart, S. 21-33.
Beck, J. (2014): ‘The Future of European Territorial Cohesion. Capacity Building for a New Quality of Cross-Border Cooperation’, in Beck, J. et al. (Hg.), Vivre et penser la coopération transfrontalière (Volume 6) : Vers une cohésion territoriale ?, Franz Steiner, Stuttgart, S. 333-351.
Casteigts, M. (2014) ‘Pour un programme de recherches interdisciplinaire sur les dynamiques transfrontalières et la coopération territoriale’, in: Beck, J. et al. (Hg.), Vivre et penser la coopération transfrontalière (Volume 6): Vers une cohésion territoriale?, Stuttgart, Franz Steiner, S. 305-328.
Evrard, E. (2018) La Grande Région Saar-Lor-Lux: Vers une suprarégionalisation transfrontalière ?, Presses universitaires de Rennes.
Marcori, C. and Thoin, M. (2011) La coopération transfrontalière, La documentation française, Paris.
Roose, J. and Kaden, U. (2017) ‘Three perspectives in borderland research. How borderland studies could exploit its potentiel’, in Opilowska, E. et al. (Hg.), Advances in European Borderlands Studies, Nomos, Baden-Baden, S. 35-45.
Schirmann, S. (2011) ‘La coopération transfrontalière – quelques aspects historiques’, in Wassenberg, B. et al. (Hg.), Vivre et penser la coopération transfrontalière (Volume 4) : les régions frontalières sensibles, Franz Steiner, Stuttgart, S. 55-65.
Wassenberg, B. (2014) ‘Historiographie de la coopération transfrontalière’, in Wassenberg, B. (Hg.), L’approche pluridisciplinaire de la coopération transfrontalière, FARE Cahier No. 5, S. 29-42.
Wille, C. (2012) Grenzgänger und Räume der Grenze. Raumkonstruktionen in der Großregion SaarLorLux, Peter Lang, Frankfurt/M.