Territoriale Grenzen als Praxis
Frau Connor, Sie haben ein Buch zur Erfindung der Grenzregion geschrieben. Was erwartet die Lesenden?
Die Lesenden erwartet eine wissenschaftliche Untersuchung im Schnittfeld von Grenzforschung und Soziologie der Praxis. Es handelt sich dabei nicht nur um eine theoretische Auseinandersetzung mit territorialen Grenzen. Ich habe mich auch in die Praxis der grenzüberschreitenden Kooperation begeben. Über ein halbes Jahr lang habe ich Akteur:innen der grenzüberschreitenden Kooperation begleitet und dabei beobachtet, wie sie grenzüberschreitende Karten erstellen und einsetzen. Denn die Karten werden überall gezeigt und sind quasi stumme Begleiterinnen des Kooperationsgeschehens – erst in der näheren Untersuchung wurde deutlich, welche zentrale Rolle sie für das Entstehen von Grenzregionen spielen.
Für Ihre Forschung haben Sie sich quasi in die Montagehalle von Grenzregionen begeben, gut ausgerüstet mit ethnografischen Werkzeugen. Was haben Sie dort erlebt?
Ethnografische Beobachtungen sind eine hervorragende Möglichkeit „Black Boxen“ zu öffnen. So konnte ich – als Forscherin in der Rolle einer „Praktikantin“ – die Arbeitsprozesse rund um die Kooperation und Kartografie quasi von innen heraus dokumentieren und analysieren. Obwohl ich mich im Vorfeld mit der grenzüberschreitenden Kooperation beschäftigt hatte, war an der Innenansicht dann doch Vieles überraschend. Hautnah konnte ich miterleben, wie territoriale Grenzen – die wir im Schengenraum eigentlich nur von Karten kennen – im Kooperationsalltag in eine Fülle „kleinerer“ Grenzen zerfallen. Plötzlich saß ich in einem Dickicht aus Zuständigkeitsfragen, Sprachbarrieren, rechtlichen Hindernissen oder kulturellen, administrativen und politischen Unterschieden.
In Ihrem Buch machen Sie den Vorschlag einer Grenzpraxeologie. Was ist darunter zu verstehen?
Mit „Grenzpraxeologie“ greife ich eine Idee von meinen Kollegen Dominik Gerst und Hannes Krämer (Universität Duisburg-Essen) auf und entwickle einen passenden Forschungsansatz. Es geht darum, die Praxis der Akteur:innen nicht von „oben“ oder „außen“ zu betrachten, sondern die Forschung mitten im Geschehen zu platzieren. So können territoriale Grenzen als Praxis aus einer neuen Perspektive beschrieben und Handlungsdynamiken herausgearbeitet werden, denen sich die Akteur:innen selbst oft nicht bewusst sind. Dieser Ansatz ermöglicht den Forschenden, aber auch den Praxis-Beteiligten, ihren Arbeitsalltag neu zu sehen und zu hinterfragen. Mit dem praxeologischen Ansatz konnte ich zeigen, wie territoriale Grenzen im Arbeitsalltag bearbeitet werden und dass die Kooperation und grenzüberschreitende Kartografie paradoxerweise selbst Grenzen produzieren.
Wem würden Sie die Lektüre Ihres Buchs empfehlen?
Ich empfehle das Buch allen Wissenschaftler:innen, Studierenden und Interessierten, die sich mit territorialen Grenzen, Grenzregionen, Praxissoziologie und Ethnografie beschäftigen. Darüber hinaus habe ich das Buch auch für Akteur:innen aus dem grenzüberschreitenden Kontext geschrieben. Während meiner Untersuchung des Kooperationsalltags habe ich wirklich tolle Menschen kennengelernt, die mit großem Engagement grenzüberschreitende Fragen vorantreiben und lösen. Von der Komplexität ihrer Aufgabe handelt das Buch.
Biographische Notiz
Ulla Connor ist Soziologin und seit 2023 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Nachwuchskolleg Europa am CEUS – Cluster für Europaforschung der Universität des Saarlandes. Ihr Soziologiestudium absolvierte sie an der TU Darmstadt mit einem Auslandsjahr an der Université de Toulouse II Le Mirail. An der Universität Luxemburg promovierte sie 2022 mit einer praxissoziologischen Untersuchung territorialer Grenzen im empirischen Feld der grenzüberschreitenden Kartografie. Ulla Connor ist Mitglied in der KWG-Sektion Kulturwissenschaftliche Border Studies und der UniGR-CBS-Arbeitsgruppe Raumplanung.