Grenzüberschreitender Arbeitsmarkt: Visionen und Wirklichkeiten
In der Großregion SaarLorLux pendeln die meisten Grenzgänger in der Europäischen Union. Dies wird im öffentlichen Diskurs unermüdlich thematisiert, um für den Kooperationsraum eine Vorreiterrolle im europäischen Integrationsprozess zu reklamieren. Zu hinterfragen ist aber, ob das vergangene und heutige Grenzgängeraufkommen tatsächlich eine fortgeschrittene Integration anzeigt oder ob die intensiven Pendelbewegungen als Indiz für (fortdauernde) sozioökonomische Ungleichgewichte zwischen den Teilgebieten zu deuten sind. Vor diesem Hintergrund werden in diesem Beitrag der grenzüberschreitende Arbeitsmarkt in der Großregion SaarLorLux näher beleuchtet und zentrale Entwicklungen der letzten Jahrzehnte sowie die mit ihnen im Zusammenhang stehenden politischen Visionen rekonstruiert. Ihre Gegenüberstellung – dies sei vorweg gegriffen – zeigt, dass politische Visionen und empirische Wirklichkeiten nur bedingt ineinandergreifen und die im politischen Diskurs identifizierten Teilmotive zu hinterfragen sind.
Ab den 1980er Jahren bis zur Jahrtausendwende sind in der Großregion SaarLorLux zunächst ein generelles Anwachsen des Grenzgängeraufkommens und eine zunehmende Orientierung der Ströme an Luxemburg festzustellen. Diese Entwicklung geht einerseits auf die krisenbedingten Arbeitsplatzeinbrüche in den Altindustrieregionen und den – zum Teil durch staatliche Subventionen – verzögerten Strukturwandel zurück. Andererseits gelingt es dem Saarland durch eine frühzeitige industrielle Diversifizierung und dem Großherzogtum durch einen entschlossenen Antikrisenkurs den Dienstleistungssektor zu entwickeln und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Daraufhin steigen besonders in Lothringen bzw. Nordfrankreich die Auspendlerzahlen nach Deutschland und Luxemburg. Das Großherzogtum entwickelt sich aber nicht nur für Lothringen bzw. Frankreich zu einem wichtigen Arbeitgeber, ebenso wachsen die Einpendlerzahlen aus Belgien und Deutschland ab Mitte der 1980er Jahre. Die Bedeutung der Grenzgängerbeschäftigung im Großherzogtum wird spätestens ab 1985 augenfällig, wo eine Verschiebung der Luxemburger aus dem sekundären Sektor in Richtung nicht marktbestimmter Dienstleistungen stattfindet; im gleichen Zeitraum wächst die Grenzgängerbeschäftigung in allen Branchen stetig an, insbesondere in den marktbestimmten Dienstleistungen und in der Bauwirtschaft. Nach der Jahrtausendwende kann Luxemburg seine Rolle als wichtigster Arbeitgeber auf dem grenzüberschreitenden Arbeitsmarkt weiter ausbauen, während das Saarland an Bedeutung verliert.
Die in den 1990er Jahren entstandene asymmetrische Konfiguration der Grenzgängerströme spitzt sich in der folgenden Dekade weiter zu, wobei sich die Pendlerbewegungen in der Großregion SaarLorLux immer stärker auf Luxemburg konzentrieren und zunehmend von Lothringen ausgehen. Dies zeigt das steigende Pendleraufkommen aus Frankreich nach Wallonien, ebenso wie der spürbare Anstieg derjenigen, die aus immer weiter entfernten Gebieten nach Luxemburg an ihren Arbeitsplatz kommen. Zusätzlich ist eine Verschiebung der Arbeitskräfteströme vom Saarland hin zum Großherzogtum festzustellen. Denn zum einen ist hinsichtlich der aus Frankreich ins Saarland und nach Rheinland-Pfalz pendelnden Arbeitskräfte ab 2002 eine rückläufige Entwicklung auszumachen, die auf eine angespannte Arbeitsmarktsituation in den beiden Bundesländern, auf das industrielle Beschäftigungsgewicht und auf die Konkurrenz des luxemburgischen Arbeitsmarkts zurückzuführen ist. Zum anderen intensivieren sich in den 2000er Jahren die Pendelbewegungen aus dem Saarland und aus Rheinland-Pfalz in Richtung Luxemburg. Die im Laufe der Jahrzehnte immer deutlicher werdende unidirektionale Ausrichtung der Grenzgängerströme auf Luxemburg wirft nicht nur Fragen mit Blick auf die Vision eines gemeinsamen Arbeitsmarkts auf, sondern hat auch im Großherzogtum zu einer atypischen Arbeitsmarktsituation geführt: Zwischen 1998 und 2008 ist die Beschäftigung im Großherzogtum um 51% gewachsen, insbesondere in den unternehmensnahen Dienstleistungen. Dabei setzte sich die schon in den 1990er Jahren registrierte Verschiebung der Arbeitskräfte mit luxemburgischer Staatsangehörigkeit aus dem verarbeitenden Gewerbe hin zum (halb-)öffentlichen Sektor weiter fort. Diese Segmentierung des Arbeitsmarkts verstärkt die Abhängigkeit Luxemburgs von ausländischen Arbeitskräften, wird die Entwicklung im privatwirtschaftlichen Sektor doch hauptsächlich von Grenzgängern und ansässigen Ausländern getragen.
Trotz der jüngsten Wirtschafts- und Finanzkrise wächst das Grenzgängeraufkommen in der Großregion SaarLorLux seit 2008 weiter an, so dass der Raum heute (2013) ca. 214.000 grenzüberschreitende Pendler zählt. Drei Viertel von ihnen arbeiten in Luxemburg, über die Hälfte (53%) kommen aus Lothringen. Diese Momentaufnahme zeigt ebenso wie die oben besprochenen Entwicklungen, dass der grenzüberschreitende Arbeitsmarkt von ausgeprägten Asymmetrien gekennzeichnet ist, die sich in unterschiedlichen Aus- bzw. Einpendleraufkommen sowie in unidirektionalen Bewegungen der Arbeitskräfteströme widerspiegeln. Ein anschaulicher Indikator dafür ist das Pendlersaldo, d.h. die Arbeitskräfteüberschüsse bzw. -verluste der Teilarbeitsmärkte infolge der Grenzgängerbewegungen: Luxemburg verzeichnet im Jahr 2013 die größten Arbeitskräftegewinne (+159.000), weit gefolgt vom Saarland (+8.600). Die übrigen Teilarbeitsmärkte hingegen geben durchweg qualifizierte Arbeitskräfte in signifikanter Größenordung an die Nachbarregionen ab, insbesondere Lothringen (-101.000), gefolgt von Rheinland-Pfalz (-24.700) und Wallonien (-18.000).
Diese asymmetrische Konfiguration zieht die politische Vision eines ‚integrierten bzw. einheitlichen Arbeitsmarkts’ erheblich in Zweifel. Denn die Diskrepanz der regionalen Arbeitskräfteüberschüsse bzw. -verluste bestätigt sich nicht nur seit Jahrzehnten mit jeder Berichterstattung der zuständigen Einrichtungen, sie wird auch immer größer: Die Arbeitskräfteverluste in bestimmten Teilregionen wachsen bei anhaltendem Anstieg der Arbeitskräftegewinne in wiederum bestimmten Teilregionen stetig an. Eine Ausnahme bildet das Saarland, in dem die Pendlergewinne – aufgrund der rückläufigen Entwicklung der Einpendler aus Frankreich bei wachsender Zahl der Auspendler nach Luxemburg – kontinuierlich zurückgehen, womit schließlich lediglich der luxemburgische Arbeitsmarkt in der Großregion SaarLorLux nachhaltig vom Zustrom qualifizierter Arbeitskräfte aus den Nachbarregionen profitiert. Dieser Befund soll nicht dahingehend verkürzt werden, dass ausschließlich die Teilregionen mit Pendlerüberschüssen von grenzüberschreitenden Arbeitskräftebewegungen profitieren; die Pendlerbeschäftigung stärkt z. B. die Kaufkraft, erhöht die Beschäftigtenquote (am Wohnort) oder Zuwanderung in den Wohnregionen der Grenzgänger.
Das politische Hauptmotiv eines ‚gemeinsamen bzw. integrierten Arbeitsmarkts’ wurde bereits dahingehend besprochen, dass dieser angesichts ausgeprägter und sich verstärkender Asymmetrien weder in den letzten Jahrzehnten noch zum aktuellen Zeitpunkt erkennbar ist. Darauf verweist auch die Interregionale Arbeitsmarktbeobachtungsstelle und formuliert im Jahr 2007: „Von einem gemeinsamen Arbeitsmarkt kann […] noch keine Rede sein. […] Daher gilt es, den großregionalen Beschäftigungsraum nicht länger als eine Addition seiner Teilarbeitsmärkte zu begreifen, sondern vielmehr integrativ als einen gemeinsamen Arbeitsmarkt, von dem die beteiligten Regionen in gleicher Weise mittel- bis langfristig profitieren.“ (IBA 2007: 98)
Auch die politisch angestrebten ‚Harmonisierung von soziökonomischen Rahmenbedingungen’ entpuppt sich bei genauer Betrachtung (noch) als Vision und wirft grundlegende Fragen auf: Zum einen ist es – abgesehen von Einzelinitiativen – den zuständigen Akteuren in der (jüngsten) Vergangenheit nur in Ansätzen gelungen gemeinsam Wege aus wirtschaftlichen Krisen zu finden. Zum anderen ist die Heterogenität der sozioökonomischen Rahmenbedingungen als Voraussetzung bzw. als wesentliche Triebfeder der Grenzgängerbeschäftigung zur Kenntnis zu nehmen, geht die Arbeitnehmermobilität doch auf Anreize zurück, die aus sozio-ökonomischen Ungleichgewichten resultieren; z. B. im Bereich des quantitativen und qualitativen Beschäftigungsangebots, der beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten, der Einkommensmöglichkeiten oder Besteuerung. Eine tatsächliche Harmonisierung sozioökonomischer Rahmenbedingungen würde – in aller Konsequenz – zwar einen integrierten grenzüberschreitenden Lebens- und Beschäftigungsraums zum Ergebnis haben, aber dem Grenzgängerwesen seine Grundlage entziehen. Vor diesem Hintergrund erscheint die hier diskutierte Leitfrage, ob die Pendelbewegungen in der Großregion SaarLorLux als Indiz für einen (fortgeschrittenen) Integrationsprozess oder als Anzeichen für (fortdauernde) sozioökonomische Ungleichgewichte zu deuten sind, in einem neuen Licht.
Mit Blick auf das Teilmotiv ‚Steuerung von Matching-Prozessen’ entsteht angesichts der oben besprochenen Entwicklungen der Eindruck, dass Richtung und Entwicklungsdynamik der Arbeitnehmerströme das Ergebnis sind von selbstregulierenden Prozessen aus Arbeits-kräfte-/Qualifikationsnachfrage und -angebot. Ein steuerndes und koordiniertes (grenzüberschreitendes) Handeln der zuständigen Akteure – etwa in Form von gezielter Qualifizierung oder Vermittlung für einen benachbarten Arbeitsmarkt – lässt sich lediglich in Ansätzen erkennen. Auch beim dafür erforderlichen Informationsaustausch der öffentlichen Arbeitsverwaltungen klaffen Anspruch und Wirklichkeit auseinander, wie die Interregionale Arbeitsmarktbeobachtungsstelle in einer Studie über grenzüberschreitende Matching-Prozesse festhält: „Die Orientierung der verschiedenen Akteure des Matching-Prozesses auf ihren eigenen regionalen und nationalen Arbeitsmarkt hat zur Folge, dass die Antizipation und Beobachtung der Stellen- und Qualifikationsbedarfe auf eine nationale und regionale Dimension beschränkt bleiben.“ (IBA 2010: 170)
Zu der schon in den 1990er Jahren vom Gipfel der Großregion eingeforderten grenzüberschreitenden ‚konzertierten Arbeitsmarktpolitik’ ist im Lichte der bisherigen Betrachtungen zu schlussfolgern, dass es eine solche „erst in Grundzügen gibt“ (Albrecht/Meyer 2012: 90). Das jüngste Beispiel dafür ist die Initiative des 14. Gipfel der Großregion unter rheinland-pfälzischer Präsidentschaft (2013-2014), „einen abgestimmten Rahmen für die Förderung grenzüberschreitender Berufsausbildung, aber auch beruflicher Weiterbildung und der Anerkennung von Qualifikationen und Abschlüssen in der Großregion zu schaffen“ (Landesregierung Rheinland-Pfalz 2014). Ob die hier angestrebte Rahmenvereinbarung sich als impulsgebender Baustein einer übergeordneten und konzertierten „grenzüberschreitenden Arbeitsmarktpolitik“ (ebd.) oder als ein weiteres und öffentlichkeitswirksames Setzen von vereinzelten Marksteinen erweist, wird die Zukunft zeigen.
Optimistischer zu bilanzieren sind dagegen die politischen Teilmotive ‚Abbau von Mobilitätshemmnissen sowie Information und Expertise’, die seit der Einrichtung der EURES-T Netzwerke, der Interregionalen Arbeitsmarktbeobachtungsstelle oder der Task Force Grenzgänger sichtbar umgesetzt werden. Hervorzuheben sind v.a. die Aktivitäten der Interregionalen Arbeitsmarktbeobachtungsstelle, die seit den frühen 2000er Jahren mit dem Aufbau eines grenzüberschreitenden Monitoringsystems und der regelmäßigen Strukturberichterstattung die Informationslage über den grenzüberschreitenden Lebens- und Beschäftigungsraum spürbar verbessert hat.
Albrecht, Maria/Meyer, Wolfgang (2012): Grenzüberschreitende Arbeitsmarktpolitik: Institutionen und institutionelle Steuerung des Arbeitsmarktes in der Großregion SaarLorLux-Rheinland-Pfalz-Wallonien. In: Meyer, Jürgen/Rampeltshammer, Luitpold (Hrsg.): Grenzüberschreitendes Arbeiten in der Großregion SaarLorLux. Saarbrücken: universaar. S. 79-151.
Gipfel der Großregion (1995-2013): Gemeinsame Erklärung des Gipfel der Großregion. Wechselnde Orte.
IBA – Interregionale Arbeitsmarktbeobachtungsstelle (2012): Die Arbeitsmarktsituation in der Großregion. 8. Bericht. Saarbrücken.
IBA – Interregionale Arbeitsmarktbeobachtungsstelle (2010): Die Arbeitsmarktsituation in der Großregion. 7. Bericht. Saarbrücken.
IBA – Interregionale Arbeitsmarktbeobachtungsstelle (2007) (Hrsg.): Der Arbeitsmarkt in der Großregion bis 2020. Perspektiven für Saarland, Lothringen, Luxemburg, Rheinland-Pfalz, die Wallonie und die Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens. Bielefeld: Bertelsmann.
Landesregierung Rheinland-Pfalz: Treffen mit dem Präsidenten des Generalrates Meurthe-et-Moselle. Pressemeldung vom 21.07.2014.
Wille, Christian (2012): Grenzgänger und Räume der Grenze. Raumkonstruktionen in der Großregion SaarLorLux (Luxemburg-Studien / Etudes luxembourgeoises, Band 1). Frankfurt/M.: Peter Lang.