Sprachen und Kulturen am Arbeitsplatz
Das Grenzgängerwesen fand bisher wenig Beachtung in kulturwissenschaftlichen Untersuchungen. Es bildet jedoch einen exemplarischen Untersuchungskontext für Gegenwartsphänomene, die Sprachen und Kulturen als ‚ordentlich praktizierte’ Symbol- und Normenkomplexe infrage stellen. Am Beispiel der Grenzgänger in Luxemburg haben drei Wissenschaftler untersucht, wie sprachliche oder kulturelle ‚Ordnungen’ in grenzüberschreitenden Bezügen praktiziert, repräsentiert und neu hervorgebracht werden.
Es ist festzustellen, dass die Meinung, gesellschaftliche Mehrsprachigkeit sei problematisch, eher unter den Grenzgängern verbreitet ist, die einsprachig sind oder keine adäquaten Sprachkompetenzen besitzen. Die sprachlichen Anforderungen am Arbeitsplatz können allerdings sehr hoch sein. Die problemorientierte Wahrnehmung kann daher aus dem variablen Zusammenspiel des Luxemburgischen, Französischen, Portugiesischen, Deutschen oder Englischen resultieren.
Die Verfechter der Meinung, gesellschaftliche Mehrsprachigkeit sei eine Chance, beherrschen oft mehrere Sprachen und sprechen die am Arbeitsplatz als am wichtigsten eingestuften Sprachen. Das Erleben von Mehrsprachigkeit korrespondiert hier somit mit den sprachlichen Interessen der Grenzgänger.
In teilnehmenden Beobachtungen wurde ermittelt, welche Praktiken Grenzgänger entwickeln, um mit Mehrsprachigkeit im beruflichen Alltag erfolgreich umzugehen.
(Kontext)spezifische Routinen und Schlüsselwörter: Eine verbreitete Praktik im mehrsprachigen Arbeitsumfeld besteht im Benutzen von sog. sprachlichen Routinen und Schlüsselwörtern. Exemplarisch dafür stehen Begrüßungs- und Abschiedsroutinen in den verschiedenen Sprachen, die von einigen Grenzgängern sehr häufig genutzt werden. Der Einsatz von Routinen zählt zur minimalen Praxis der Mehrsprachigkeit, da ihr Gebrauch keinen tatsächlichen Sprachwechsel impliziert. Ebenso verhält es sich mit dem Gebrauch von Schlüsselwörtern. Bei ihnen handelt es sich um bestimmte Worte, die in den Sprachgebrauch am Arbeitsplatz übergegangen sind und eine kontextspezifische Bedeutung erlangt haben.
Übersetzung: Ein Sprachmittler ermöglicht Kommunikation, auch wenn die Anwesenden keine gemeinsame Sprache teilen. An den untersuchten Arbeitsplätzen kann zwischen verschiedenen Formen der Übersetzung unterschieden werden: (a) Ein Grenzgänger bittet einen mehrsprachigen Kollegen explizit um die Übersetzung eines schriftlichen Dokumentes; (b) zwei Kollegen, die nicht über eine gemeinsame Sprache verfügen, fragen einen dritten Mitarbeiter um Übersetzung; (c) ein mehrsprachiger Arbeitskollege übersetzt ohne Aufforderung, um die Anwesenden in ein Gespräch einzubinden.
Rezeptive Mehrsprachigkeit: Bei der rezeptiven Mehrsprachigkeit handelt es sich um eine Strategie, die mindestens passive Sprachkompetenzen voraussetzt und bei der die Gesprächspartner jeweils ihre Erstsprache miteinander sprechen. Diese Praktik scheint – vermutlich aufgrund sprachstruktureller Ähnlichkeiten – vor allem zwischen Luxemburgern und deutschsprachigen Grenzgängern verbreitet zu sein und wird von Letztgenannten als Möglichkeit wahrgenommen, sich trotz mangelnder Kenntnis des Luxemburgischen den Luxemburgern sprachlich anzupassen.
Akkommodation und Verhandlung: Die sprachliche Anpassung eines Sprechers an sein Gegenüber, die im Wechsel in seine Erstsprache besteht, wird als Akkomodation bezeichnet. Diese Strategie im maximalen Umgang mit Mehrsprachigkeit wird von Grenzgängern am häufigsten genannt. Ist ein Luxemburger im Gespräch mit Grenzgängern, so ist zumeist er derjenige, der – vermutlich aufgrund seiner Sprachkompetenzen – in die Sprache des Gegenübers wechselt. Unter Grenzgängern ist die Frage, wer sich wem anpasst, weniger berechenbar und in erster Linie von den Sprachkompetenzen der Beteiligten abhängig.
Lingua franca: Das Benutzen einer lingua franca – also einer ‚dritten‘ und gemeinsamen Kommunikationssprache – gilt ebenfalls als eine maximale Praktik der Mehrsprachigkeit. Sie erfordert von allen Gesprächspartnern den Wechsel in eine andere Sprache. Diese Strategie ist – auf Basis des Englischen – im Arbeitsumfeld von Grenzgängern in Luxemburg durchaus verbreitet, gleichwohl hier unterschiedliche Befunde vorliegen. Dies ist auf die Bedingungen an den jeweils untersuchten Arbeitsplätzen zurückzuführen, an denen die Gesprächspartner teilweise die Sprache des Gegenübers beherrschten bzw. keine gemeinsame Drittsprache gefunden werden konnte.
Kreativer Sprachen- und Strategiemix: Zur maximalen Praxis der Mehrsprachigkeit zählt des Weiteren eine Mischform der vorgestellten Praktiken. So wurde beobachtet, dass Gesprächspartner, die auf keine gemeinsame Sprache oder auf keinen Übersetzer zurückgreifen können, alle die ihnen zur Verfügung stehenden kommunikativen Mittel einsetzen. Z. B. wurde erhoben, wie eine deutsche und eine belgische Angestellte sprachliche Elemente aus dem Deutschen, Französischen und Luxemburgischen nutzten, um sich auszutauschen. Beide Grenzgängerinnen setzten dabei ein Hörverstehen des Luxemburgischen und Deutschen voraus, wodurch ein individueller, produktiv-kreativer Sprachstil entstand.
Der luxemburgische Arbeitsmarkt kennzeichnet sich in besonderer Weise durch Interaktionen zwischen Personen unterschiedlicher Nationalitäten. Zwar impliziert nationale Vielfalt nicht zwangsläufig kulturelle Vielfalt, jedoch ist zu beobachten, dass die Nationalität eine wichtige Rolle für kulturelle Zuschreibungen spielt. Solche Kategorisierungen von interpersonalen Unterschieden und der Umgang mit ihnen wurden näher untersucht.
Interkulturalität am Arbeitsplatz wird von Grenzgängern in Luxemburg unterschiedlich erlebt: Viele betrachten die Zusammenarbeit mit den Kollegen als „problemlos“, wobei angemerkt wird, dass es darauf ankäme, ob die Luxemburger „eher deutsch oder französisch orientiert seien“ oder dass „man sich mit [den Luxemburgern] eben verstehen müsse, damit ein nettes Klima am Arbeitsplatz herrscht“. Andere Grenzgänger nehmen die Vielfalt im Unternehmen als „bereichernd und interessant“ wahr; andere wiederum empfinden die von ihnen gelebte Interkulturalität als „schwierig und problematisch“. Als dafür ursächlich werden v.a. unterschiedliche Sprachen und Arbeitsweisen genannt.
Sicherheitsorientierung: Hinsichtlich der Sicherheitsorientierung wird die deutsche Arbeitsweise von den Befragten – in Abgrenzung zur luxemburgischen Arbeitsweise – durch detaillierte Planung und routinemäßige Abläufe und damit als am stärksten sicherheitsorientiert charakterisiert.
Umgang mit Zeit: Mit Blick auf den Umgang mit Zeit sind es den Grenzgängern zufolge besonders Deutsche, gefolgt von Luxemburgern, die auf das Einhalten von Fristen achten und Zeitpläne respektieren. Für Franzosen hingegen würden Zeitpläne eher zur Orientierung dienen. In der Gesamtschau werden die berücksichtigten Nationalitäten von den Befragten tendenziell als monochron bewertet, was einer sequentiellen Organisation der Arbeit entspricht.
Umgang mit Macht: Mit Blick auf die Orientierung an Machtstrukturen wird die französische Arbeitsweise als stark hierarchieorientiert bewertet, was durch die Betonung von wenig Eigeninitiative und ausgeprägter Akzeptanz von Anweisungen zum Ausdruck kommt. Auch die luxemburgische Arbeitsweise – wenn auch in schwächerer Form – wird als hierarchieorientiert qualifiziert, wenn sie zwischen Akzeptanz und kritischem Hinterfragen von Arbeitsanweisungen eingeordnet wird. Die deutsche Arbeitsweise schließlich wird als weniger hierarchieorientiert eingestuft.
Beziehungs-/Sachorientierung: Hinsichtlich der Beziehungs- bzw. Sachorientierung werden die betrachteten Arbeitsweisen von den Befragten in der Tendenz als sachorientiert eingeschätzt, gleichwohl sich die Arbeitsweise von Deutschen eher durch die Priorisierung von Aufgaben vor den Beziehungen zu Kollegen kennzeichne.
Vor dem Hintergrund der zugeschriebenen Merkmale kann die luxemburgische Arbeitsweise als intermediär betrachtet werden. Denn während die weitgehend als sicherheitsorientiert wahrgenommenen deutschen Grenzgänger die Luxemburger bspw. als vergleichsweise wenig sicherheitsorientiert einstufen, betonen die als wenig sicherheitsorientiert beschriebenen Grenzgänger aus Frankreich das Sicherheitsstreben der Luxemburger. Dieses Wahrnehmungsmuster wiederholt sich in Bezug auf den Umgang mit Zeit oder hinsichtlich der Beziehungs-/Sachorientierung von Luxemburger Kollegen.
Ausgehend davon, dass die als distinkt wahrgenommenen Arbeitsweisen für die Interaktionspraxis von Bedeutung sind, werden die bei Grenzgängern in Luxemburg beobachteten Strategien des Umgangs mit kulturellen Unterschieden vorgestellt.
Dominanzstrategie: Als Dominanzstrategie können Praktiken im Kulturkontakt beschrieben werden, bei denen Grenzgänger von der Überlegenheit der ihnen vertrauten Werte, Normen und Praktiken ausgehen. Dies zeigt sich z. B. im Bestreben, die vertrauten (und somit ‚richtigen’) Handlungsroutinen gegenüber den fremden durchzusetzen und das Interaktionsgeschehen zu dominieren.
Assimilationsstrategie: Die Neigung zur Anpassung, die in einer bereitwilligen Übernahme von ‚anderen’ Werten, Normen und Praktiken besteht, wird als Assimilationsstrategie bezeichnet. Sie wird von Grenzgängern oft aus pragmatischen Gründen bevorzugt und erfordert ein gewisses „Gemüt“, wie eine Grenzgängerin im Interview erklärt.
Divergenzstrategie: Viele Grenzgänger qualifizieren kulturelle Unterschiede als ein die Zusammenarbeit erschwerendes, jedoch zu respektierendes Moment. Als problematisch wird dabei eine grundsätzliche Unvereinbarkeit unterschiedlicher Werte, Normen und Praktiken angesehen. Die auf Divergenz basierende Strategie zeigt sich dann darin, dass der ‚Andere’ respektiert und/oder Gemeinsamkeiten herausgestellt werden. Zumeist steht jedoch die respektvolle und vermeintlich nicht auflösbare Unvereinbarkeit der kulturellen Orientierungen im Vordergrund.
Synthesestrategie: Einige Grenzgänger praktizieren eine kreative Handlungsstrategie. Sie gehen von der Gleichrangigkeit der als distinkt wahrgenommenen Werte, Normen und Praktiken aus und versuchen diese produktiv zusammenzuführen. Über die Kombination der als Stärken und Schwächen wahrgenommenen Eigenschaften soll ein besseres Ergebnis oder eine effektivere Zusammenarbeit erreicht werden als dies ohne kulturelle Vielfalt möglich wäre.
Die bei Grenzgängern identifizierten Interkulturalitätsstrategien sind als idealtypische und kontextabhängige Strategien im Umgang mit wahrgenommenen kulturellen Differenzen zu betrachten. Daneben sind weitere Strategien sowie Mischformen der vorgestellten Strategien denkbar, die in der Interaktionspraxis aufgebrochen und sich wiederum zu neuen Routinen verstetigen können.
Festgestellt wurde, dass das mehrsprachige und multikulturelle Arbeitsumfeld von Grenzgängern sowohl positiv als auch negativ erlebt wird. Die Wahrnehmung reicht von „Ausgrenzung und Informationsverlust“ bis hin zu „Bereicherung und Entwicklungschancen“ im Kontext kultureller Vielfalt oder mangelnder Fremdsprachenkenntnisse. Die Ergebnisse zeigen ferner, dass das subjektive Erleben dieser Aspekte vermutlich von vorausgegangenen beruflichen Erfahrungen und von individuellen Sozialkompetenzen beeinflusst ist.
Hinsichtlich der Sprachkontaktsituationen wurden sechs idealtypische Strategien herausgearbeitet, die ein Kontinuum minimaler bis maximaler Praxis der Mehrsprachigkeit beschreiben. Im Kulturkontakt zeichneten sich vier zentrale Interkulturalitätsstrategien zwischen Ethnozentrismus und -relativismus ab. Sowohl in Sprach- als auch in Kulturkontaktsituationen reicht das Spektrum von Anpassungstendenzen (Assimilation/Akkomodation) bis hin zu produktiv-kreativen Strategien der Differenzverhandlung (Synthese/Sprachen- und Strategiemix).
Die Einblicke geben Hinweise auf Kompetenzen, die für Grenzgänger und damit für Arbeitnehmer auf grenzüberschreitenden Arbeitsmärkten erforderlich sind. Zur Entwicklung eines entsprechenden Kompetenzprofils und seiner Didaktisierung bedarf es jedoch weiterführender Studien im Luxemburger Kontext. Eine umfassende Bestandsaufnahme und Analyse der praktizierten Handlungsstrategien in den Unternehmen Luxemburgs auf dem Gebiet der Mehrsprachigkeit und Interkulturalität steht noch aus.