Grenzüberschreitende Alltagspraktiken
In dem Beitrag „Grenzüberschreitende Alltagspraktiken in der Großregion SaarLorLux: eine Bestandsaufnahme“ (Wille 2015) werden Praktiken untersucht, die von den Einwohnern des Saarlandes, Lothringens, Luxemburgs, von Rheinland-Pfalz und Wallonien regelmäßig im angrenzenden Ausland ausgeführt werden. Dafür leitend ist die Überlegung, dass sich Grenzregionen im Allgemeinen und die Großregion SaarLorLux im Besonderen anhand der grenzüberschreitenden Ausführungen von Alltagspraktiken ihrer Bewohner als grenzüberschreitende Lebenswirklichkeit bestimmen lassen. In einer solchen sozialkonstruktivistischen Perspektive wird also danach gefragt, auf welche Weisen die Großregion SaarLorLux konstituiert wird bzw. wie sie sich im Alltag ihrer Bewohner manifestiert. Dafür werden die am häufigsten grenzüberschreitend ausgeführten Alltagspraktiken näher betrachtet, zu denen das Einkaufen für den täglichen Bedarf, das freizeitorientierte Shoppen, das Erholen im Grünen/Tourismus, das Besuchen von kulturellen Veranstaltungen sowie das Besuchen von Freunden und Familienmitgliedern zählen. Die Betrachtungen basieren auf drei empirischen Studien im Untersuchungsraum und daraus ausgewählten Befunden, die zueinander in Beziehung gesetzt sowie soziokulturell und sozioökonomisch eingeordnet werden. Ziel ist es, die räumliche Organisation, die Motive und andere Kontextfaktoren von grenzüberschreitenden Alltagspraktiken in der Großregion SaarLorLux herauszuarbeiten.
Der Beitrag ergänzt vorliegende Befunde aus dem Bereich der grenzüberschreitenden Arbeitspendler- und Wohnmobilität und zeigt einen Zusammenhang zwischen diesen Mobilitätsphänomen und grenzüberschreitender Alltagsmobilität auf. Außerdem macht er einen Zusammenhang mit Blick auf den Wohnort deutlich, insofern als in Grenznähe wohnende Personen besonders oft in eine (direkt) angrenzende Region fahren. Die grenzüberschreitenden Ausführungen von Alltagspraktiken sind daher v.a. entlang der Grenzsäume in der Großregion SaarLorLux zu beobachten. Für grenzüberschreitende Lebenswirklichkeiten spielt ferner das zentral gelegene Luxemburg eine wichtige Rolle. Einerseits zieht es aufgrund von Grenzgängerbeschäftigung, bestimmten Besteuerungsmodalitäten, attraktiven und mehrsprachigen Freizeit- und Kulturangeboten viele Einwohner der angrenzenden Regionen an. Andererseits erweisen sich die weitgehend mehrsprachigen Einwohner des Großherzogtums im Rahmen von Alltagspraktiken ausgesprochen mobil. So wurde z. B. festgestellt, dass v.a. Einwohner mit luxemburgischer Staatsbürgerschaft häufiger im angrenzenden Deutschland shoppen als im Wohnland, wobei Luxemburger generell stärker zum angrenzenden Deutschland und die ansässigen Ausländer stärker zum angrenzenden Frankreich und Belgien orientiert sind.
Die Einwohner der beiden deutschen Bundesländer erledigen Alltagspraktiken grenzüberschreitend v.a. im benachbarten Luxemburg und Frankreich, wobei unterschiedliche räumliche Schwerpunkte auszumachen sind: Die Einwohner des Saarlandes suchen häufiger das angrenzende Frankreich und die Einwohner von Rheinland-Pfalz häufiger Luxemburg auf, was mit der jeweiligen geographischen Nähe, den Arbeitsmarktverflechtungen und der grenzüberschreitenden Wohnmigration erklärt werden kann. Ähnlich verhält es sich mit den Einwohnern der beiden französischsprachigen Regionen, die häufiger als die Einwohner der deutschen Bundesländer Alltagspraktiken v.a. in Luxemburg ausführen, sich aber mit Blick auf das angrenzende Deutschland unterscheiden: Die Einwohner Lothringens bestätigen hier die oben thematisierte Alltagsmobilität an der deutsch-französischen Grenze; die Einwohner Walloniens hingegen fahren nur selten ins angrenzende Deutschland. Als Freizeitdestination wird das angrenzende Frankreich besonders oft für Erholungspraktiken im Grünen bzw. für touristische Ausflüge von den Einwohnern der angrenzenden Regionen aufgesucht; Belgien hingegen spielt für grenzüberschreitende Alltagspraktiken eine insgesamt eher nachrangige Rolle.
Die Gesamtschau der Mobilitätsströme und bevorzugten Destinationen spiegelt Regionalisierungsprozesse wider, die auf eine lebensweltliche Fragmentierung der Großregion SaarLorLux hindeutet. Diese äußert sich in ausgeprägten Mobilitätsströmen im Zuge von grenzüberschreitenden Alltagspraktiken zwischen Luxemburg und den beiden deutschen Bundesländern sowie zwischen Luxemburg, Lothringen und Wallonien. Diese räumliche Fragmentierung ist – neben anderen Erklärungsansätzen – zugleich als eine sprachräumliche Fragmentierung zu verstehen, zeichnet sich hier doch eine Dichotomie zwischen deutsch- und französischsprachigen Teilgebieten ab, die die intermediäre Positionen Luxemburgs bzw. ihrer Bewohner erneut deutlich macht.
Auch wenn die Großregion SaarLorLux verschiedene räumliche Zuschnitte besitzt, ihr Name nicht hinreichend aussagekräftig ist, das politische Konzept ‚Großregion SaarLorLux’ bei vielen Einwohnern nicht ‚ankommt’ oder die Zusammenarbeit der politischen Partner oft schwierig ist, zeigt der Beitrag, dass es die Großregion SaarLorLux gibt. Sie manifestiert sich als grenzüberschreitende Lebenswirklichkeit ihrer Bewohner, die sie über Alltagspraktiken (immer wieder aufs Neue) konstituiert. Diese Sichtweise, die auch als „Doing Grande Région“ (Wille 2010) bezeichnet werden kann, erscheint für die border studies im Allgemeinen und in der Großregion SaarLorLux im Besonderen vielversprechend. Denn sie vermag bspw. den Umstand aufzulösen, dass viele Bewohner grenzüberschreitend mobil sind – also ‚Großregion SaarLorLux machen’ –, sich aber nicht bewusst sind, dass man dies so bezeichnen könnte. Ferner lässt sie unterschiedliche räumliche Zuschnitte und Konstellationen der politischen Zusammenarbeit nebeneinander zu und gerät nicht in einen Theoriekonflikt mit einer Großregion SaarLorLux, die lebensweltlich v.a. entlang der Grenzsäume und politisch in unterschiedlichen Geschwindigkeiten ‚stattfindet’.