Rezension - Grenzen überwinden durch Kultur?
Grenzen überwinden durch Kultur? Dieser Titel soll keineswegs nur Interesse wecken, vielmehr pointiert er das Leitthema des Buchs von Monika Sonntag. Die Autorin nimmt einen weit gefassten Grenzbegriff zum Ausgangspunkt und untersucht das Zusammenspiel von territorialen und sozialen Differenzierungen in der grenzüberschreitenden kulturellen Kooperation. Dafür begibt sich Sonntag in zwei Grenzregionen und betrachtet auf Akteur/-innenebene räumliche Identifikationen und Identifizierungen bzw. die darin angelegten Ent- und Begrenzungsprozesse. Hinter der geographischen Identitätsforschung steht das Anliegen, einen konzeptionellen Beitrag für die Untersuchung von Subjektpositionen unter räumlichen Gesichtspunkten und für die Beschreibung europäischer Identitäten zu leisten.
Der Untersuchungskontext der Studie dient dabei als Brennglas, werden essentialistische Identitätskonzepte und binäre Codierungen in Grenzregionen doch besonders herausgefordert. In Anknüpfung an Derrida und Butler, die mit dezentriertem Blick die Relationen und Veränderlichkeit in den Mittelpunkt stellen, entwickelt Sonntag eine adäquate Konzeption zur Untersuchung von räumlichen Identitäten. Dabei warnt sie vor der Romantisierung von Hybridität und Auflösung, vielmehr ginge es darum, Widersprüche zu erfassen – wie etwa die „Gleichzeitigkeit von Prozessen der Begrenzung und Entgrenzung, der Schließung und Öffnung, von Territorialität und Relationalität, Partikularismus und Universalismus“ (S. 58). Die Herausforderung bestehe dann darin zu analysieren, „in welchen Situationen Grenzziehungsprozesse gegenüber einer Alterität stattfinden und in welchen Situationen eher Entgrenzungsprozesse dominieren“ (S. 58). Dafür greift die Autorin auf die – aus der Autobiographieforschung bekannte – Positionierungstheorie zurück, welche Selbst- und Fremdpositionen zu ermitteln erlaubt, die in (räumlichen) Kategorisierungen und Zuweisungen zum Ausdruck kommen. Somit gelingt es, Identitäten von Akteur/-innen als veränderbare Positionierungen gegenüber sozialen, räumlichen oder kulturellen Kategorien zu operationalisieren, um Logiken des borderings und die darin angelegte „Gemengelage der Widersprüchlichkeiten“ (S. 59) offenzulegen.
Vor diesem theoretisch-konzeptionellen Hintergrund wendet sich Sonntag zwei Untersuchungsräumen im Grenzgebiet von Frankreich, Belgien, Deutschland und Luxemburg zu. Während es sich bei der „Großregion“ um eine Kooperation zwischen Regionen und bei der „Eurométropole Lille-Kortrijk-Tournai“ um eine Kooperation zwischen Kommunalverbänden handelt, kennzeichnen sich beide Räume durch eine lange Tradition der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und durch enge Verflechtungen im Kulturbereich. Dieser hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen, wofür vor allem die Nominierung der Städte Luxemburg (2007) und Lille (2004) als „Kulturhauptstadt Europas“ sowie die EU-Interreg-Förderung maßgeblich waren. Beide Städte haben die Nachbarregionen in das Großereignis eingebunden und das jeweilige Programm grenzüberschreitend ausgerichtet, wodurch sich in den Folgejahren jeweils weitere grenzüberschreitende Kooperationen und Netzwerke zwischen Kulturbehörden, Kulturinstitutionen und Kulturschaffenden entwickeln konnten.
Das Feld der kulturellen Zusammenarbeit erschließt die Autorin über 45 teilnarrative Expert/-inneninterviews in zwei zentralen Akteursgruppen: 17 Vertreter/-innen der Gebietskörperschaften, die im Bereich der öffentlichen Kulturpolitik bzw. -verwaltung arbeiten sowie 28 Vertreter/-innen von Kultureinrichtungen (z. B. von Museen oder von Theatern) und selbständige Kulturschaffende. Die geführten Interviews wurden einem mehrstufigen Codierver-fahren unterzogen, d.h. nach sprachlichen Markierungen und thematischen Kriterien fortlaufend differenziert, um räumlichen Positionierungen sukzessive herauszuschälen. Sonntag unterscheidet in der anschaulichen Ergebnispräsentation zwischen Identifikationen von Räumen, womit die auf die jeweiligen Grenzräume bezogenen Repräsentationen und Kategorisierungen angesprochen werden, sowie Identifizierungen mit Räumen als Selbstpositionierungen der Befragten zu den von ihnen konstruierten Kategorien. Die Analyse zeigt bald, dass diese Unterscheidung lediglich analytischer Natur ist, sind doch beide Dimensionen vielfältig miteinander verschränkt. Werden die äußerst interessanten Unterschiede zwischen den Untersuchungsräumen und die Positionierungen in ihrer analytischen Tiefe ausgeblendet, kann für die Identifikation von Räumen verkürzend festgehalten werden, dass bei den Kulturschaffenden an die Stelle von politisch-administrativen Grenzen eher Differenzmarker treten, die das Kulturleben unmittelbar betreffen: „Der Publikumsgeschmack und die Reaktion des lokalen Publikums auf neue und ungewohnte Formen der Kunst, die generelle Vielfalt des Kulturangebots sowie nicht zuletzt die Fördermöglichkeiten von Projekten und das wahrgenommene Engagement der Politik für die Belange der Künstler und Kulturschaffenden“ (S. 188). Bei den befragten Verwaltungsmitarbeiter/-innen, die aus der Perspektive einer national geprägten Behörde argumentieren, werden territoriale Grenzen – in ihrer jeweiligen Ambivalenz – stärker thematisiert: „Die Raumrepräsentationen […] sind durch grundsätzliche Widersprüchlichkeit zwischen der Öffnung bzw. Verunsicherung nationaler Identitäten einerseits und deren gleichzeitiger Stärkung und Verfestigung andererseits gekennzeichnet“ (S. 184). Bei der Identifizierung mit Räumen werden nationale Grenzen als Differenzierungskriterium deutlicher relativiert. Hier fungieren beispielsweise ‚gestrige und lokal zentrierte Regionalpolitiker’ oder ‚das künstlerisch wenig gebildete Publikum’ als konstitutive Andere, an denen die eigene proeuropäische und zentrumsgewandte Position ‚erarbeitet’ wird. Das empirische Material bietet eine Fülle an analytischen Ansatzpunkten und wird von der Autorin in seiner Vielschichtigkeit und Komplexität gründlich aufgearbeitet. Neben den zahlreichen Interviewauszügen erweisen sich für den Leser hier besonders die Querverweise und resümierenden Zwischenfazits als hilfreich.
Abschließend greift die Autorin die Frage nach der Beschreibung europäischer Identitäten auf. Es sei davon auszugehen, dass auf europäischer Ebene keine homogene und eindeutige Identität entsteht. Vielmehr sei von einer „Suche Europas“ auszugehen „nach einer Identität, die […] eine ‚Einheit in der Vielfalt‘ widerspiegelt und die damit einhergehenden Begrenzungen und Entgrenzungen berücksichtigt“ (S. 241f.). Die Ergebnisse der Studie stehen exemplarisch für solche Prozesse und zeigen, dass nationale oder regionale Identitäten sich in grenzüberschreitenden Bezügen nicht auflösen, sondern auf vielfältige Weise (temporäre) Allianzen eingehen mit verschiedenen Anderen.
Mit der umfangreichen und in einer klaren Sprache verfassten Arbeit legt Sonntag einen innovativen Beitrag zur Konzeptionalisierung von räumlichen Identitäten vor. Sie bringt nicht nur Aspekte der poststrukturalistischen Identitäts- und Sprachtheorien mit relationalen Konzepten der Geographie in Verbindung, sondern leistet eine beispielhafte Operationalisierung von Doing Identity, die auf weitere Fragestellung der akteurszentrierten Identitätsforschung übertragen werden kann und sollte. Die Studie gibt darüber hinaus fundierte Einblicke in die europäische Kulturpolitik und zeichnet ein detailreiches und von Expertenwissen dicht durchzogenes Bild der grenzüberschreitenden kulturellen Kooperation in der „Großregion“ und „Eurométropole Lille-Kortrijk-Tournai“.
Angaben zum Buch
Monika Sonntag: Grenzen überwinden durch Kultur? Identitätskonstruktionen von Kulturakteuren in europäischen Grenzräumen (Luxemburg-Studien/Etudes luxembourgeoises, Bd. 3). Frankfurt/M., 2013, ISBN 978-3-631-64079-1.