Phantomgrenzen und grenzüberschreitende Wohnmigation
Nationalstaatliche Grenzen haben ihre trennende Wirkung im deutsch-luxemburgischen Grenzraum weitgehend eingebüßt, was sich zum Beispiel in der ausgeprägten Alltags- und Wohnmobilität widerspiegelt. Dadurch werden nationale Grenzen relativiert, gleichzeitig aber bestehen sie weiter fort – etwa in Form von räumlich-materiellen und sozialen Differenzmarkierungen. Diesen Zusammenhang von Auflösung und gleichzeitigem Fortbestand von Grenzen, der mit der Denkfigur der Phantomgrenze gefasst wird, haben Wissenschaftler am Beispiel der grenzüberschreitenden Wohnmigration aus Luxemburg untersucht.
Die Analyse stützt sich auf rezente Studienergebnisse im saarländischen und rheinland-pfälzischen Grenzraum. Es handelt sich um:
eine geostatistische Untersuchung und kartographische Dokumentation der räumlichen Verteilung luxemburgischer Staatsbürger in der saarländischen Gemeinde Perl;
eine auf der Auswertung qualitativer Interviews basierende Analyse der Migrationsgründe und Wohnortwahl eines luxemburgischen Wohnmigranten in der saarländischen Kreisstadt Merzig;
eine in grenznahen rheinland-pfälzischen Landkreisen durchgeführte quantitative Studie zu Meinungsbildern bezüglich der Wohnmigranten und
um ethnographisch orientierte Fallstudien in bevorzugten Zuzugsgemeinden im unmittelbaren rheinland-pfälzischen Grenzraum zu Luxemburg.
Die Beispiele der Gemeinde Perl und der Kreisstadt Merzig haben gezeigt, dass durch die Wohnmigration der Luxemburger in die saarländischen Grenzgebiete sowohl auf Gemeinde- als auch auf Ortsebene neue räumliche Fragmentierungen und soziale Grenzziehungen entstehen. Die Tatsache, dass die Gemeinden und Orte mit ausgezeichneter Verkehrsanbindung an Luxemburg überproportional wachsen, bewirkt, dass einzelne Gemeinden und Ortsteile von anderen abgegrenzt werden. Daneben sind aufgrund von hoher Neubautätigkeit Grenzziehungen zwischen dem historisch gewachsenen Ortskern und den Neubaugebieten feststellbar, was Spannungen zwischen Autochthonen und Luxemburgern hervorrufen kann. Diese komplexen Entwicklungen in den Grenzräumen haben unter anderem dazu geführt, dass sich luxemburgische Personen bereits vermehrt in grenzferneren Gemeinden niederlassen, um Konzentrations- und Fragmentierungstendenzen zu entfliehen. Damit wird die deutsch-luxemburgische Grenze trotz ihrer De-Substantialisierung auf kleinräumiger und alltagskultureller Ebene manifest.
Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangen die in Rheinland-Pfalz durchgeführten Studien, wenn etwa in der Analyse der Meinungen über Wohnmigranten eine Differenzwahrnehmung seitens der Autochthonen deutlich wird, insbesondere hinsichtlich der möglichen Zugehörigkeit der Wohnmigranten zur Gruppe der „Einheimischen“. Dagegen wurden die Relevanz der Kategorie des „reichen Luxemburgers“ sowie die Rolle der Luxemburger bei der lokalen Preisentwicklung von den Autochthonen relativiert und zum Teil erstaunlich differenziert betrachtet. Diese quantitative Analyse der Vorstellungen von „den Luxemburgern“ wurde durch die qualitative Betrachtung von Fremd- und Selbstwahrnehmungsprozessen bei einigen ausgewählten luxemburgischen Wohnmigranten ergänzt. Hier zeigte sich, dass die betrachteten Ehepaare am neuen Wohnort zwar mit nationalen Kategorisierungen konfrontiert sind, diese jedoch als Elemente vielschichtiger Aneignungs- und Zuschreibungsprozesse verstanden werden müssen. Die Ehepaare machten die diversen Fremdbilder auf verschiedene Art und Weise zu Bestandteilen ihrer Erzählungen und lieferten damit unterschiedliche Varianten des Themas „Dazwischen-Sein“. Die nationale Grenze, deren begrenzende und ordnende Funktion durch den Vorgang des Wohnortwechsels und durch die massive Präsenz von Luxemburgern in einer Gemeinde wie Freudenburg in hohem Grade gemindert erscheint, ist demnach gleichwohl ein wichtiges Moment in den beschriebenen Fremd- und Selbstwahrnehmungsprozessen.
Die Untersuchungsergebnisse zeigen, dass die symbolisch-ordnende bzw. differenzierende Funktion territorialer Grenzen trotz ihrer Durchlässigkeit und schwindenden Trennwirkungen erhalten bleibt. Die sozialen Manifestationen dieser Grenzen können vielfältig sein, sie haben jedoch stets phantomhafte Züge. Die Denkfigur der Phantomgrenze, die ein ‚taubes Element‘ und ‚sein Phantom‘ fasst, eignet sich daher in besonderer Weise, um den in den Border Studies zwar häufig untersuchten – aber konzeptionell oft nur unzureichend explizierten – Zusammenhang zwischen der territorialen und sozialen Dimension von Grenzen zu thematisieren.