Geographien der Grenzen
Grenzen und Covid-19
Territoriale Grenzen und soziale Grenzziehungsprozesse gewinnen im Zuge der Covid-19-Pandemie eine zum Teil dramatische Relevanz. Ein prägnantes Beispiel dafür ist das 25. Jubiläum des Inkraftretens der Schengener Abkommen am 26. März 2020, das mit der Verstärkung von Grenzkontrollen bzw. Schließungen der EU-Binnengrenzen zusammenfällt. Die von der EU-Kommission zum 16. März 2020 aufgestellten „Richtlinien zu Maßnahmen des Grenzmanagements zum Schutz der Gesundheit und zur Sicherstellung der Verfügbarkeit von Waren und notwendigen Dienstleistungen“ sorgen derzeit dafür, dass trotz einsetzender re/bordering-Prozesse die Grenzen durchlässig bleiben für den Warenverkehr, Grenzgänger*innen und für eigene Landsleute.
Diese Korridore bleiben allerdings verschlossen für Schutzsuchende, also für ‚Ausländer*innen‘, und die Nationalstaaten konzentrieren sich auf die eigenen Interessen. Auch bei der Beschaffung von medizinischem Material scheint nationaler Protektionismus und Egoismus zunächst leitend zu sein, wenn etwa Exportverbote ausgesprochen oder Schutzmasken beschlagnahmt werden. Solche Renationalisierungsprozesse – oder besser gesagt: nationalen Selbstbeschäftigungen – führen auch dazu, dass sich keine Regierung mehr einsetzt für die Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge. Sie verharren in Camps auf den griechischen Inseln, an der türkisch-griechischen Grenze und anderswo in beengten Verhältnissen, gravierenden hygienischen Bedingungen und es ist nur eine Frage der Zeit, bis dort eine humanitäre Katastrophe ausbricht.
Gleichzeitig ist eine gewisse Solidarität zwischen den EU-Ländern zu beobachten, die erst Ende März langsam Fahrt aufzunehmen scheint. Dazu zählt nicht nur das immer stärker artikulierte Anliegen, sowohl bei der Eindämmungs- als auch der Exit-Strategie abgestimmt vorzugehen. Auch die zunehmende Aufnahme von schwerkranken Infizierten aus Nachbarländern oder der Versand von medizinischem Material in besonders betroffene Gebiete im Ausland zeugen davon. Die EU-Kommission versäumt es dabei nicht, mit ihren PR-Werkzeugen die Vorteile des Zusammenschlusses der europäischen Staaten herauszustreichen: etwa in Bezug auf das konzertierte #FlattenTheCurve, die koordinierten Rückholaktionen per Charterflüge, die Bereitstellung von Hilfspaketen oder die gemeinsame Beschaffung von medizinischer Ausrüstung. Birgt die Coronakrise mit ihren Abschottungsreflexen einerseits und ihrer sogenannten #EUSolidarity andererseits eine Chance zur Wiederbelebung Europas?
Soziale Grenzziehungen
Soziale Grenzziehungen werden in der aktuellen Situation als Kategorisierungen relevant gemacht, und das zum Teil in dramatischer Weise. Angesprochen sind damit Unterscheidung in systemrelevante Arbeitskräfte einerseits, welche über neue Formen der kollektiven Solidarbekundung oft als ‚Held*innen des Alltags‘ gefeiert werden. Und die weniger systemrelevanten Arbeitskräfte andererseits, die à la #SocialDistancing im vermeintlich sicheren Home-Office arbeiten. Diese Unterscheidung, die auch eine Ordnung der Privilegierten und weniger Privilegierten widerspiegelt, verweist weiter auf Fragen der (Un)gleichheit: Inwiefern sind wir im Angesicht der Viruserkrankung (un)gleich und warum stellen sich die weniger Privilegierten nun weitgehend als systemrelevant heraus?
Daneben ist die Vulnerabilität von Menschen – zumeist gemessen am Alter und an Vorerkrankungen – ein weiteres Kriterium für zu beobachtende b/ordering-Prozesse: Personen werden in Risikogruppen eingeteilt und damit als besonders schützenswert bzw. weniger schützenswert, was sich allerdings als nicht verlässlich erweist. Denn auch bei jungen Menschen kann die Infektionskrankheit einen schweren Verlauf nehmen. Weiter werden soziale Grenzziehungen mit zum Teil tödlicher Finalität vorgenommen, die der fortlaufenden Pandemie und wachsenden Überlastung der Gesundheitssysteme geschuldet sind. So müssen Ärzt*innen entscheiden, wer ambulant und wer stationär behandelt wird oder wer beatmet wird und wer nicht (mehr). Solche eingesetzten Ordnungen, die für Grenzen zwischen Leben und Tod stehen (können), rufen ethische Fragen auf den Plan.
Außerdem sind Kategorisierungen kritisch im Blick zu behalten, die ‚das Fremde‘ als Bedrohung oder Ursache der Viruserkrankung projizieren (othering). So wurden schon einige Wochen vor den einschneidenden Schutzmaßnahmen chinesische Restaurants gemieden, von einem „chinesischen Virus“ (D. Trump) gesprochen oder das mexikanische Bier „Corona Extra“ stehen gelassen. Solche Beobachtungen mögen zunächst nachrangig erscheinen, aber es ist vermutlich nur eine Frage der Zeit bis rechtspopulistischen Kräfte ähnliche Kategorien des konstitutiven Anderen mobilisieren und für ihre Interessen in Stellung bringen.
(Dis)Kontinuitäten in Grenzregionen
Die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus haben die Wirtschaft lahmgelegt und werden gravierende Auswirkungen zeigen für Beschäftigung und Arbeitsmarkt. Nach den ersten Einbrüchen an den Börsen haben Betriebe ihre Produktion zurückgefahren, öffentliche Einrichtungen auf Notbetrieb umgestellt und Arbeitskräfte wurden angehalten sich im Home-Office gesund zu halten, um jene zu ersetzen, die sich an vorderster Front arbeitend infizieren könnten. Das soziökonomische Ecosystem ist aus der Spur geraten und das Virus fördert seine Fragilität(en) zu Tage. Das wird besonders in Grenzregionen deutlich, die durch Grenzschließung oder -verstärkungen nun mehr oder weniger abgeschnitten sind von ihren Nachbarn. So leidet zum Beispiel das deutsche Bundesland Brandenburg enorm unter der Schließung der deutsch-polnischen Grenze, die sich sofort mit Pkw- und Lkw-Staus von 15 bis 20 Stunden, entsprechenden Lieferverzögerungen und Schwierigkeiten für Pendler*innen niederschlug.
Mit einer speziellen Bescheinigung können Grenzgänger*innen die Grenzkorridore nutzen, wobei für jene, die im Home-Office arbeiten, fiskalische Probleme entstehen: Ab einer bestimmten Anzahl an Tagen, die im Wohnland gearbeitet wird, wird die Arbeitsleistung nach den Regeln des Wohnlands besteuert und die Abgabe auch dort abgeführt. Dieses Problem, das für Grenzgänger*innen etwa in Luxemburg auch in virusfreien Zeiten problematisch ist, wurde rasch gelöst: Belgien, Frankreich (und bald auch Deutschland) haben Luxemburg versichert, dass diese Besteuerungsregel während der Pandemie nicht greifen soll.
Dafür hat sich die luxemburgische Regierung eingesetzt, denn aktuell ist die Abhängigkeit Luxemburgs von seinen Nachbarländern so deutlich wie noch nie zuvor: Ca. 70% der Arbeitskräfte im Gesundheitssektor sind Grenzgänger*innen (überwiegend aus Frankreich), deren Wegbleiben verhängnisvoll wäre – sie sind systemrelevant im wahrsten Sinne des Wortes. Es erstaunt daher nicht, dass der luxemburgische Premierminister sich bei den Grenzgänger*innen persönlich bedankt für ihre Arbeit im Großherzogtum und seinen Landsleuten versichert, er wisse von oberster Stelle, dass die Grenze zu Frankreich für Grenzgänger*innen passierbar bleibe. Auch in der Schweiz werden solche Abhängigkeiten virulent, weshalb Grenzgänger*innen weiterhin in die Alpenrepublik gelassen und – wie auch in Luxemburg – Überlegungen geführt werden, ob Grenzgänger*innen (mit ihren Familien) während der Pandemie am Arbeitsort in Hotels untergebracht werden können.
Die Pandemie macht in Grenzregionen sicher mehr als anderswo deutlich, inwiefern in der gegenwärtigen Krisensituation – aber auch danach – ein gemeinsames Handeln notwendig ist. Aktuelle Initiativen dieser Art sind die gegenseitige Unterstützung in der Krankenversorgung, wie etwa die Aufnahme von schwerkranken Infizierten aus Grand Est in Baden-Württemberg, dem Saarland, Rheinland-Pfalz oder Luxemburg. Oder die Einrichtung der „Cross-Border Task Force Corona“ zwischen Nordrhein-Westfalen, den Niederlanden und Belgien für ein abgestimmtes Vorgehen bei der Eindämmung von Covid-19 im Grenzgebiet.
Post-Corona
Es ist zu erwarten, dass sich Europa und die Gesellschaften weltweit durch die Viruskrankheit und die durchlebten drastischen Maßnahmen verändern werden. Darauf deutet bereits die gegenwärtige Rhetorik hin, die mit „Krise“ operiert, was etymologisch nichts Anderes als „entscheidende Wendung“ bedeutet. Allerdings ist noch nicht absehbar, wohin eine solche Wendung weisen wird. Wird die Erfahrung der Pandemie das Bewusstsein für eine entfesselte Globalisierung schärfen und künftig mehr Regeln oder Überwachung und Kontrolle einfordern? Wird das geteilte Moment der Krise und der (grenzüberschreitenden) Solidarität die EU-Länder und Grenzregionen wieder bzw. noch näher zusammenbringen? Oder werden Nationalismen weiter aufkeimen und fortgeschriebene Renationalisierungsprozesse den Post-Coronalismus kennzeichnen?
Damit im Zusammenhang steht auch die Frage nach der Zukunft des schon während der sogenannten Migrationskrise angeschlagenen Schengen-Raums. Anlässlich seines Jubiläums wies der luxemburgische Außenminister, Jean Asselborn, dafür eine Richtung:
”Die Regeln des Schengen-Raums bilden den Rahmen für eine Zusammenarbeit, die es uns ermöglicht, gemeinsam die beispiellose Herausforderung dieser Pandemie zu bewältigen. Deshalb fordere ich, dass die im Schengenregime festgelegten Freiheiten so schnell wie möglich wieder etabliert werden. Die Wiedereinführung von Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen zwischen bestimmten Ländern kann nur eine einmalige und vorübergehende Maßnahme sein und muss in Übereinstimmung mit den Verträgen durchgeführt werden.Jean Asselborn, luxemburgischer Außenminister
Anmerkung: Dieser Text wurde Anfang April 2020 unter dem Eindruck der aktuellen Ereignisse verfasst.