Komplexitätsorientierte Grenzforschung

Seit Mitte der 2010er Jahre setzt sich in der Grenzforschung zunehmend die Auffassung durch, dass Grenzen komplexe Phänomene seien (Gerst et al. 2018; Scott 2021; Wille 2021; Brambilla 2023; Wille et al. 2024). Daran wird die Erwartung geknüpft, simplifizierende Sichtweisen auf Grenzen zu überwinden, die einen Grenzbegriff der Linie und Schließung sowie die Idee eines territorialen Mosaiks separierter Nationalcontainer zu Grunde legen. Trotz der aufgekommenen Rede von Komplexität liegen kaum Arbeiten vor, die erklären, was genau mit komplexen Grenzen oder komplexitätsorientierter Grenzforschung gemeint ist (zum Beispiel: Gerst et al. 2018; Brambilla 2023; Wille 2024).

Status quo

Die Grenzforschung ist vielmehr von einem diffusen Komplexitätsverständnis und einer Pluralität dessen, was an Grenzen als komplex qualifiziert wird, geprägt. So wird häufig die Singularität, Multiplizität, Multidimensionalität, Multivalenz, Relationalität, Agonalität oder Diffundiertheit von Grenzen als komplex bezeichnet, ohne diese Qualifizierung näher zu reflektieren. Es scheint in der Debatte mitunter ein Alltagsverständnis von Komplexität verbreitet zu sein, das den Begriff vorschnell mit Kompliziertheit oder Unübersichtlichkeit gleichsetzt. Der Blick auf die Komplexitätstheorien zeigt aber, dass progressive Strömungen der Grenzforschung mit dem Komplexitätsdenken durchaus gut vereinbar sind. Es erscheint daher lohnend genauer darüber nachzudenken, was eine komplexitätsorientierte Grenzforschung sein kann und was sie leisten kann.

Grundideen des Komplexitätsdenkens

Pointiert formuliert fokussiert die Komplexitätsforschung auf materielle oder soziale Gefüge und ihre emergenten Eigenschaften, welche die Elemente, aus denen sie sich zusammensetzen, in eigendynamischen Prozessen entfalten (Manson/O’Sullivan 2006, 678; Cilliers 2016, 141). Dabei leitend ist die Auffassung, dass das Ganze – etwa eine Grenze – mehr ist als die Summe seiner konstitutiven Teile. Oder analytisch formuliert: Die Eigenschaften von komplexen Gefügen können nicht über ihre Elemente, sondern über das unberechenbare und performative Zusammenspiel ihrer Elemente erklärt werden. Aus diesem Grund spielen in der Komplexitätsforschung die Begriffe der Interaktion und Emergenz eine wichtige Rolle: Sie zeigen den Fokus auf die wechselseitigen Beziehungen der Elemente und die aus ihrem Zusammenwirken hervorgehenden Eigenschaften der Gefüge an. Dabei interessiert Komplexitätsforschende in erster Linie, wie die beteiligten Elemente im Zusammenspiel welche Muster bzw. Ordnungen ausbilden, die dann für die Eigenschaften der Gefüge stehen.

Emergierende Ordnungen als Eigenschaften von komplexen Gefügen | © gremlin

Texturale Ontologie der Grenze

Diese Grundideen des Komplexitätsdenkens geben Hinweise darauf, wie eine komplexitätsorientierte Grenzforschung stringent ausgerichtet werden kann. Dazu zählt die elementare Frage, wie Grenzen als gefügeartige Gebilde mit ihren Bestandteilen konzeptuell gefasst werden können. Hier bietet die Texturalisierung von Grenzen geeignete Anknüpfungspunkte. Sie steht für das rezente Aufkommen von Ansätzen, welche Bordering-Prozesse umfassender denken: in der (erschöpfenden) Pluralität der für sie relevanten Praktiken, Dimensionen, Akteure und Formen sowie teilweise im Zusammenspiel derselben in Raum und Zeit. Zu solchen Ansätzen zählen zum Beispiel die ethnografische Grenzregimeanalyse (Transit Migration Forschungsgruppe 2007), borderscapes (Brambilla 2015), bordertextures (Weier et al. 2018) oder der Assemblage-Ansatz (Sohn 2016). Sie folgen einer texturalen Ontologie der Grenze und konzipieren diese als transterritoriales, transskalares oder transtemporales Gefüge, das aus mehr oder weniger in Beziehung stehenden polymorphen Elementen besteht.

Innenansichten der Grenze

Der Fokus der Komplexitätstheorien auf Beziehungen und die daraus hervorgehenden Ordnungen ist für die Grenzforschung ein Gewinn und eine Herausforderung zugleich: Einerseits ist die Idee der emergenten Ordnungen anschlussfähig an das ordnende und geordnete Prinzip der Grenze. Hier fragt eine komplexitätsorientierte Grenzforschung, wie und welche Ordnungen texturale Gefüge hervorbringen, die als Grenz(ziehung)en wirkmächtig werden. Andererseits erfordert dieser Fokus eine Dezentrierung der an Bordering-Prozessen beteiligten Elemente sowie eine Beobachtungsposition, die im performativen Zusammenspiel der Elemente verortet ist. Denn die empirische Beobachtung im performativen Geschehen erlaubt einen Blick auf das komplexe Zusammenspiel der Elemente und somit Einblicke in die eigendynamischen Emergenzen von B/Orderings. Geeignete Anknüpfungspunkte für solche Grenz-Innenansichten bieten Methodologien wie borderness (Green 2012), border as method (Mezzadra/Neilson 2013), migration as a prism (Hess 2018), bordertexturing (Weier et al. 2018) oder Grenzpraxeologie (Connor 2023; Gerst/Krämer 2017).

Border Complexities folgt der Bedeutung von complexus (lat.) in einer doppelten Weise: Zum einen adressiert das Konzept „what is woven together“ (Morin 2007, 6), zum anderen adressiert es die wechselseitigen Beziehungen der relevanten Elemente und die daraus hervorgehenden B/Orderings.

Christian Wille

Border Complexities als Perspektive

An die Überlegungen für eine komplexitätsorientierte Grenzforschung schließen eine Reihe weiterer Fragen an, die Gegenstandskonstruktion, geeignete Methoden, disziplinäre Zusammenarbeit u.v.m. betreffen. Für ihre Bearbeitung und weitere Diskussion wird ein Konzept vorgeschlagen, das Grenzen nicht per se für komplex erklärt, sondern eine komplexitätssensible Perspektive auf Grenzen bietet: Border Complexities soll für ein vom Komplexitätsdenken inspiriertes Konzept stehen, das (a) Grenzen als relationale Gefüge auffasst, (b) auf das eigendynamische und unberechenbare Zusammenspiel ihrer Bestandteile und (c) auf dessen emergente Un/Ordnungen, die als Borderings wirksam werden, fokussiert. Damit schließt Border Complexities an die texturale Ontologie der Grenze an, vollzieht eine Grenz-Innenansicht und geht analytisch weiter als nur danach zu fragen, welche Dimensionen in Bordering-Prozessen eine Rolle spielen oder inwiefern die beteiligten Elemente territorial, akteursbezogen und skalar verteilt sind. Denn Bordering-Prozesse, die durch die Komplexitätslinse betrachtet werden, lassen sich nicht – wie in der aktuellen Grenzforschung verbreitet – über die Pluralität oder Polymorphie der beteiligten Elemente und ihre räumliche Verteilung erklären. Border Complexities adressiert vielmehr das emergente Moment, das dort manifest wird, wo die Textur der an Bordering-Prozessen beteiligten Elemente lediglich Voraussetzung dafür ist, um ihre wechselseitigen Beziehungen – als ein für emergierende Un/Ordnungen wirksames Zusammenspiel – sichtbar und analysierbar zu machen.

Literatur

Brambilla, Chiara. 2023. Rethinking Borders Through a Complexity Lens: Complex Textures Towards a Politics of Hope. Journal of Borderlands Studies, online first: 1–20.  doi:10.1080/08865655.2023.2289112.

Brambilla, Chiara. 2015. Exploring the Critical Potential of the Borderscapes Concept. Geopolitics 20, no. 1: 14–34. doi:10.1080/14650045.2014.884561.

Cilliers, Paul. 2016. Complexity, deconstruction and relativism. Critical Complexity. Collected Essays, ed. Preiser, Rika, 139–152, Berlin/Boston: De Gruyter.

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Weier, Sebastian, Astrid M. Fellner, Joachim Frenk, Daniel Kazmaier, Eva Michely, Christoph Vatter, Romana Weiershausen and, Christian Wille. 2018. Bordertexturen als transdisziplinärer Ansatz zur Untersuchung von Grenzen. Ein Werkstattbericht. Berliner Debatte Initial 29, no. 1: 73–83.

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Wille, Christian. 2021. Vom processual shift zum complexity shift: aktuelle analytische Trends der Grenzforschung. Handbuch für Wissenschaft und Studium, eds. Gerst, Dominik, Maria Klessmann, and Hannes Krämer, 106–120. Baden-Baden: Nomos. doi:10.5771/9783845295305-106.

Wille, Christian, Carolin Grandits-Leutloff, Falk Bretschneider, Sylvie Grimm-Hamen and, Hedwig Wagner. 2024. Border Complexities and Logics of Dis/Order, Baden-Baden: Nomos. doi:10.5771/9783748922292.

Wille, Christian (2024): Grenzen als horizontale Geographien? Perspektiven für synthetische Betrachtungen am Beispiel des Complexity Shift in der Grenzforschung. In: Weber/Kühne/Dittel (Hg.): Transformation Processes in Europe and Beyond. Perspectives for Horizontal Geographies. Springer VS, 107-132. mehr Info
Wille, Christian (2024): Komplexitätsdenken und Grenzforschung. Überlegungen und Perspektiven zu einem vielversprechenden Verhältnis. UniGR-CBS Working Paper 20. mehr Info