Zur Multivalenz von Grenzen

Grenzen bestimmen wieder die politische Agenda und stehen im Zentrum gesellschaftlicher Debatten. Denn während sich spätestens seit den 2010er Jahren Regulations- und Kontrollpraktiken transterritorial vervielfältigen, werden nunmehr wieder verstärkt Grenzmauern gebaut, Zäune eingepflockt und Grenzanlagen ausgebaut. Die Art und Weise, wie sich Grenzen ereignen und materialisieren, unterliegt also einem stetigen Wandel.

In diesen Transformationsprozessen ist das Prinzip der Grenze unverändert geblieben. Es basiert auf Unterscheidungen, über die sozial und räumlich wirksame kulturelle Ordnungen eingesetzt oder (de-)stabilisiert werden. Solche Prozesse vollziehen sich über Praktiken der Klassifizierung von Menschen und wurden selten so umfänglich durchgesetzt, wie es die Technologisierung heute erlaubt.

Solche Grenzziehungsprozesse folgen kulturellen Ordnungslogiken, die nicht nur variabel in der Zeit sind, sondern auch höchst selektiv. Denn die (Ein-)Ordnungen und die damit verbundenen ‚Sortiervorgänge‘ sind nicht für alle Menschen in gleicher Weise bedeutsam: Während einige Menschen sich den Ordnungspraktiken kaum entziehen können, bleiben andere davon unberührt. Diese Ungleichheit greift der Begriff der Multivalenz auf.

Der Begriff der Multivalenz bezeichnet einen analytischen Zugang zu Grenzen, der auf Ungleichheiten und ihre unterlegten kulturellen Ordnungslogiken fokussiert. Er folgt der Idee, dass Grenzen soziale Wertigkeiten bzw. Valenzen eingeschrieben sind, die mit Blick auf unterschiedliche Menschen variieren. Multivalenz will somit eine soziale Mehrwertigkeit der Grenze fassen, die Produkt und Produzentin von Ungleichheiten ist und auf die dafür ins Werk gesetzten kulturellen Ordnungen verweist.

In der achten Ausgabe von „Borders in Perspective“ (2023) erproben die Autor:innen den analytischen Zugang der Multivalenz mit Analysebeispielen von Governance, Flucht, Berichterstattung, Film und Literatur. In sechs Beiträgen zeigen sie multiple Valenzen von Grenzen auf, rekonstruieren die dafür relevanten Ordnungslogiken und leisten einen wichtigen Beitrag zur Profilierung des Multivalenz-Begriffs.

Inhalt

Grenzen und ihre Multivalenzen in einem flüchtigen Europa (Christian Wille, Florian Weber und Astrid M. Fellner)

Zur Multivalenz europäischer Grenzen im Zuge der Covid-19-Pandemie (Florian Weber)

The Power of the “Right Papers”: Crossing Borders along the Western Balkan Route (Michal Pavlásek)

Was bedeutet hier eigentlich „(nicht) bleiben werden?“ Polysemie und Multivalenz bei prognostischen Grenzen (Simon Sperling)

Visualizing Multivalent B/Orders? Images, Politics, and the Long Summer of Migration of 2015 (Laura Holderied)

Representations of Multivalent B/Orders in Industrial Films on the Greater Region SaarLorLux (Isis Luxenburger)

“Ci eravamo abituati a non essere più noi stessi” – Shifting Borders and Identities in Transalpine Regions (Sophia Mehrbrey and Jonas Nesselhauf)

Wille/Weber/Fellner (Hg.) (2023): B/Orders are (not) everywhere (for everyone): On the multivalence of borders in a flee(t)ing Europe. Borders in Perspective 8. mehr Info
Wille, Christian (2023): Approaches to the Border between Diffusion and Fortification. Blog BorderObs, UniGR-Center for Border Studies. mehr Info