Borderscapes
Der Ansatz ‚borderscapes’ überwindet das Denken in territorialen Ordnungen und rekonstruiert (De-)Stabilisierungen von Grenzen über das komplexe Zusammenspiel ihrer sozialen Wirksamkeiten und Aushandlungen. ‚Borderscapes‘ überführt Grenzen also in die Landschaften ihrer multiplen Wirksamkeiten, die durchaus an ‚territorialen Ränder‘ beobachtet werden können, aber nicht zwangsläufig. Damit macht der Ansatz ein analytisches Angebot, das sich von territorialen Ordnungen emanzipiert, für die Komplexität von Grenzen sensibilisiert und diese außerdem als Ressourcen betrachtet. Allerdings kann der Ansatz nur schwer auf den Begriff gebracht werden, steht er doch für einen theoretisch-konzeptionellen Rahmen, der Grenzforschende orientiert und Spielräume für Aneignungen und Mehrdeutigkeiten lässt.
Begriff
Der Begriff ‚borderscapes‘ wurde von den Künstlern Gómez-Peña und Sifuentes geprägt, als sie vor zwanzig Jahren die Performance „Borderscape 2000: Kitsch, Violence, and Shamanism at the End of the Century“ (1999) aufführten. Nach der Jahrtausendwende ist der Begriff auch in der Wissenschaft auszumachen, wenn zunächst auch nur vereinzelt (Harbers 2003; Dolff-Bonekämper/Kuipers 2004; dell’Agnese 2005; Strüver 2005). Ab Mitte der 2000er Jahre findet ‚borderscapes’ eine wachsende Verbreitung in der wissenschaftlichen Debatte. Dafür maßgeblich sind die Veröffentlichung des Buchs „Borderscapes: Hidden Geographies and Politics at Territory’s Edge” (Rajaram/Grundy-Warr 2007) und eine Reihe an Konferenzen der International Geographical Union, die den Begriff im Konferenznamen tragen. In den 2010er Jahren setzt eine Popularität des Begriffs ein, die vermutlich auf das Forschungsvorhaben „EUBORDERSCAPES – Bordering, Political Landscapes and Social Arenas: Potentials and Challenges of Evolving Border Concepts in a post-Cold War World” (Euborderscapes 2016) zurückgeht. Aus dem multidisziplinären Projekt (2012-2016) ist eine Vielzahl an wissenschaftlichen Veröffentlichungen hervorgegangen, die den Begriff als einen Ansatz der komplexitätsorientierten Grenzforschung profiliert haben.
Mit den unterschiedlichen Gebrauchsweisen von ‚borderscapes’ sind verschiedene Verständnisse des Begriffs verknüpft, die unterschieden werden können in „Landschaft an der Grenze“, „Landschaft durch die Grenze“ und „Grenze als Landschaft“. Letzteres gilt als das am weitesten verbreitete Verständnis in der Grenzforschung (Krichker 2019: 4) und fasst die Grenze im Anschluss an die „Scapes of Globalization“ von Arjun Appadurai (1996) als eine sich fortwährend wandelnde Landschaft. Der Landschaftsbegriff wird hier metaphorisch zur Beschreibung von dynamischen und transskalaren Verflechtungen gebraucht, die sich zwar räumlich, aber nicht im Mosaik der nationalstaatlichen Ordnung abbilden lassen. ‚Borderscapes‘ in diesem Sinn steht für einen mobilen und relationalen Raum.
Mehrdeutigkeiten
Die Attraktivität von ‚borderscapes‘ resultiert für viele Grenzforscher*innen aus einer gewissen „theoretical and methodological vagueness” (Krichker 2019: 1), die verschiedene Deutungen erlaubt. Dies spiegelt sich zum Beispiel in der Frage wider, inwiefern es sich bei ‚borderscapes‘ um einen Untersuchungsgegenstand oder eine Method(ologi)e handelt. Die Unbestimmtheit zeigt sich nicht nur im diffusen Gebrauch der Begriffe „borderscapes“ und „borderscaping“, genauso wird ‚borderscape‘ variabel als „concept“, „approach“ oder „method“ bezeichnet. Als Untersuchungsgegenstand beruht ‚borderscapes‘ auf einer analytischen Systematisierung als relationale, diffundierte, episodische, perspektivische und umkämpfte Formationen, die mit nationalen Grenzen in Beziehung stehen. Allerdings bleibt ungeklärt, wer oder was (nicht) zu ‚borderscapes‘ zählt und entsprechend (keine) Berücksichtigung in der Analyse findet. Die wenigen Aussagen zu dieser Frage geben kaum Anhaltspunkte, obwohl ihre Bearbeitung einer potentiellen (und teilweise zu beobachtenden) Übergeneralisierung von ‚Grenze‘ entgegenwirken kann.
Mit der Überführung von ‚borderscapes‘ in eine Tätigkeit wiederum verfolgen Grenzforscher*innen unterschiedliche method(olog)ische Anliegen, weshalb ‚borderscaping‘ bei näherer Betrachtung auf verschiedene Aspekte der Grenzforschung abzielt. Hier kann unterschieden werden zwischen ‚borderscaping‘ als Methode der Gegenstandskonstruktion, ‚borderscaping‘ als Methode der Empirie und ‚borderscaping‘ als Methode engagierter Grenzforschung. Letztgenannter geht es darum, das Forschungshandeln als eine „political and performative method” (Brambilla 2021: 85) zu verstehen, die Einsichten in die Komplexität und Umkämpftheit von ‚borderscapes‘ erlaubt mit dem Anliegen, darüber Unsichtbares sichtbar und/oder unterdrückte Existenzen zu Grenzgestalter*innen zu machen. Dieses engagierte Anliegen, das zugleich Grenzforscher*innen zu ‚Landschaftsgestalter*innen‘ macht, ist vom Ansatz „Border as Method“ (Mezzadra/Neilson 2013) inspiriert, dem es um das Wissen über die (vergrenzte) Welt und ihre (Mit-)Gestaltung gleichermaßen geht.
Komplexität
Neben einer kritischen Wissensproduktion will der Ansatz vor allem die Komplexität von Grenzen angemessen berücksichtigen und verstehen. ‚Borderscapes‘ ist dafür zweifelsohne ein geeignetes Instrument. Allerdings ist in der Forschungspraxis und der konzeptionellen Debatte um ‚borderscapes‘ zu beobachten, dass die (erzielten) Aussagen zur Komplexität von Grenzen oft zu kurz greifen. Viele Arbeiten erschöpfen sich darin, möglichst viele Konstituenten von ‚borderscapes‘ in den Blick zu bekommen und diese dann mehr oder weniger isoliert voneinander zu untersuchen. Vernachlässigt werden so die zahlreichen Verweisungszusammenhänge, die nicht nur für das Zusammenspiel der Konstituenten von ‚borderscapes‘ stehen, sondern die Grenze erst zu einem komplexen Gegenstand machen. Denn die emergenten Effekte der Einsetzung oder (De-)Stabilisierung von Grenzen, die von ‚borderscapes‘ ausgehen, sind nicht auf die Konstituenten von ‚borderscapes‘ zurückzuführen, sondern auf ihr komplexes und performatives Zusammenspiel.
Vor diesem Hintergrund soll auf die in der Grenzforschung nicht selten anzutreffende Verwechslung von Komplexität mit Multiplizität aufmerksam gemacht. Die Multiplizität der Grenze, mit der i.d.R. die Vielzahl der relevanten Akteure, Praktiken und Diskurse in ‚borderscapes‘ oder die Vielzahl der Dimensionen der Grenze bezeichnet wird, leistet es nicht, die Komplexität der Grenze zu verstehen. Dafür gilt es sich vielmehr den performativen Prozessen zwischen den relevanten Akteuren, Praktiken, Diskursen oder Dimensionen zuzuwenden, welche Grenz(de)stabilisierungen hervorbringen und über die wechselseitigen Verweisungszusammenhänge erschlossen werden können.
Dell’Agnese, Elena (2005): Bollywood’s Borderscapes. Paper presented at AAG Pre-Conference at the University of Colorado, Boulder, April 3-5.
Dell’Agnese, Elena / Amilhat-Szary, Anne Laure (2015): Introduction: Borderscapes: From Border Landscapes to Border Aesthetics. Geopolitics 20(1), S. 4-13, DOI:10.1080/14650045.2015.1014284
Appadurai, Arjun (1996): Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization. University of Minnesota Press, Minneapolis, Minn.
Brambilla, Chiara (2021): In/visibilities beyond the spectacularisation: young people, subjectivity and revolutionary border imaginations in the Mediterranean borderscape. In: Schimanski, Johan / Nyman, Jopi (Hg.): Border images, border narratives: The political aesthetics of boundaries and crossings. Manchester, Manchester University Press, S. 83-104.
Dolff-Bonekämper, Gabi / Kuipers, Marieke: Boundaries in the Landscape and in the City. In: Dolff-Bonekämper, Gabi (ed.): Dividing Lines, Connecting Lines – Europe’s Cross-Border Heritage. Strasbourg, Council of Europe, pp. 53-72.
Euborderscapes (2016): EUBORDERSCAPES – Bordering, Political Landscapes and Social Arenas: Potentials and Challenges of Evolving Border Concepts in a post-Cold War World. Large-Scale Integrating Project FP7-SSH-2011-1-290775, Final Report WP1.
Harbers, Arjan (2003): Borderscapes, The Influence of National Borders on European Spatial Planning. In: R. Brousi, P. Jannink, W. Veldhuis and I. Nio (eds.): Euroscapes. Amsterdam: Must Publishers/Architectura et Amicitia, S. 143-166.
Krichker, Dina (2019): Making Sense of Borderscapes: Space, Imagination and Experience, Geopolitics, DOI: 10.1080/14650045.2019.1683542
Mezzadra, Sando / Neilson, Brett (2013): Border as Method, or, the Multiplication of Labor. Durham, Duke University Press.
Rajaram, Prem Kumar / Grundy-Warr, Carl (Hg.) (2007): Borderscapes. Hidden Geographies and Politics at Territory’s Edge. Minneapolis/London, University of Minnesota Press.
Strüver, Anke (2005): Stories of the ‘Boring Border’: The Dutch-German Borderscape in People’s Minds. Münster, LIT-Verlag.