Möglichkeiten und Grenzen praxistheoretischer Ansätze
Herr Murmann, Sie haben mit Friederike Elias, Albrecht Franz und Ulrich Wilhelm Weiser das Buch „Praxeologie“ herausgegeben. Welche Kernfragen waren leitend für den Band?
Wir haben uns bei der Konzeption des Bandes vor allem die Frage gestellt, wie sich das Bündel praxeologischer Theorien mit konkreten Forschungsanliegen verbinden lässt. In einem weiteren Schritt hat uns interessiert, inwiefern diese Theorien interdisziplinäres Potenzial tragen, d.h. ob und wie weit die verschiedenen Forschungsansätze untereinander anschlussfähig sind.
Die relativ junge Theorieströmung basiert auf einer zum Teil (noch) ungewöhnlichen Vorstellung von sozialer Wirklichkeit. Was kennzeichnet praxistheoretisches Denken?
Im Wesentlichen lassen sich drei Säulen der Praxeologie herausarbeiten. Hierbei ist zunächst der Begriff der „Praktik“ von Bedeutung. Dieser, in Abgrenzung vom Konzept der intendierten und rationalen „Handlung“, stellt die Verhaltensakte in den Vordergrund, die auf routinisiertem, implizitem und nicht reflektiertem Wissen beruhen. Diese Perspektive hebt auf die Wahrnehmung von Kultur als durch reproduzierte Praktiken geprägte Ordnung ab, d.h. Kultur entsteht aus immer wieder wiederholten Praktiken, denen nicht zwangsläufig rationale oder ökonomische Erwägungen zugrunde liegen müssen. Die zweite Säule bezieht sich auf den Akteur. Innerhalb praxeologischer Kategorien, die den Akteur als Träger einer Praktik definieren, sind nicht nur der Mensch interessant, sondern auch die Faktoren, die ihn zum Ausüben einer Praktik veranlassen – beispielsweise Artefakte oder auch Tiere. Diese gelten dann nicht als passive Objekte, sondern nehmen gewissermaßen an der Praktik teil. Die dritte Säule ist die Materialität. Dies bedeutet, dass die Materialität eines Artefaktes oder auch eines Körpers als gleichberechtigte Dimension des Kulturellen betrachtet und in der Analyse entsprechend behandelt wird.
Die Buchbeiträger/innen teilen trotz individueller Fallstudien gemeinsame theoretische Bezugspunkte. Wie ist es den Herausgeber/innen gelungen, mit den Autor/innen diese Kohärenz herzustellen?
Wir haben die Autor/innen gebeten, den Aufsatz „Die Materialisierung der Kultur“ von Andreas Reckwitz, der am Anfang des Bandes steht, in ihre Beiträge einzubeziehen. Die Heidelberger Tagung im Jahr 2011, die dem Sammelband vorausging, hat zudem gezeigt, dass sich die Teilnehmer/innen ohnehin in den erwähnten drei Hauptsträngen der Praxeologie verorten. Insofern hat sich die Schaffung einer gemeinsamen theoretischen Grundlage als relativ problemlos erwiesen.
Im Lichte der Buchbeiträge: Wie bewerten Sie nun die Potentiale und disziplinenübergreifende Reichweite praxistheoretischer Ansätze?
Die Tagung wie auch der Sammelband haben gezeigt, dass praxeologische Konzepte in verschiedenen Disziplinen – z. B. Geschichtswissenschaft, Literaturwissenschaft, Archäologie oder Soziologie – einsetzbar sind und somit interdisziplinäre Perspektiven gestatten. Angesichts der Tatsache, dass es „die“ Praxeologie eben nicht gibt, ist es jedoch sicherlich erforderlich, sich unter Berücksichtigung der verschiedenen Ansätze auf einen gemeinsamen, theoretischen Rahmen zu verständigen. Dass dies möglich ist, zeigt der Sammelband sehr deutlich. Es wird abzuwarten sein, welche Reichweite praxeologische Konzepte entwickeln können. Gerade der Faktor „Materialität“ scheint hier zukunftsträchtig zu sein.
Biographische Notiz
Henning Murmann studierte Mittlere/Neuere Geschichte, Anglistik und Politikwissenschaft in Mainz und Siena und promovierte 2014 in frühneuzeitlicher Geschichte an der Universität Heidelberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Rechts- und Institutionengeschichte des Alten Reichs sowie die Residenzstadtentwicklung in der Frühen Neuzeit. Darüber hinaus arbeitete er u.a. im musealen Bereich, in der politischen Bildung und Gedenkstättenpädagogik.
Kontakt
henningmurmann(at)googlemail.com