Partizipative Governance an EU-Binnengrenzen
Herr Ulrich, Sie haben zur Rolle der Zivilgesellschaft in der grenzregionalen Kooperation publiziert. Warum dieses Thema?
In Zeiten multipler Krisen wird das Projekt der EU von Politik und Gesellschaft immer stärker in Frage gestellt. Auch eine Reform der EU wird offen diskutiert. Meine politikwissenschaftliche Arbeit setzt an diesem Punkt an und fokussiert Veränderungspotentiale der EU, aber auch die Stärken europäischer Politik. Eine Errungenschaft ist die Entfaltung der (grenz)regionalen Ebene und die grenzüberschreitende Kooperation. Durch die Unterstützung des Europarats und der EU hat sich ein „Europa der Grenzregionen“ – wie ich es nenne – herausgebildet. Das heißt, für einen beträchtlichen Teil der EU-Bevölkerung in Grenzregionen findet das Leben – nunmehr eingeschränkt durch die Pandemie – transregional statt: Wohnen, Mobilität und Freizeit. Gleichzeitig sind Grenzregionen die Orte, an denen europäische Integration, kulturelle Vielfalt und Politik mit und durch Zivilgesellschaft „bottom-up“ entstehen kann. Die grenzregionale zivilgesellschaftliche Ebene birgt daher ein großes Potential zur Stärkung europäischer Politik. Allerdings erschweren – mit und ohne Pandemie – geopolitische und soziokulturelle Grenzziehungen die zivilgesellschaftliche Interaktion über Grenzen hinweg. Diese schon länger beobachteten Entwicklungen habe ich in meinem Buch in ein Analysemodell überführt und empirisch angewandt. Das Modell verknüpft Ansätze aus den European, Border und Regional Studies mit dem Ziel, Politik mit Zivilgesellschaft in EU-Grenzräumen zu untersuchen.
Dass Bürger*innen ihre grenzüberschreitende Region politisch mitgestalten, ist ein noch junger Trend. Sind Sie einer der Pioniere, die sich damit wissenschaftlich befassen?
Es ist tatsächlich ein Terrain, das noch wenig erforscht ist. Nichtsdestotrotz gab es bereits in den 1990er Jahren in den interdisziplinären Border Studies im Zuge des europäischen Integrationsprozesses Studien zur Ausdifferenzierung von grenzüberschreitenden Kooperationsnetzwerken, die auch zivilgesellschaftliche und bürgerschaftliche Netzwerke berücksichtigten. Die gesellschaftliche Ebene in grenzüberschreitenden Räumen wurde zudem auch umfassend in Bezug auf Identitäten und gesellschaftliche In- und Exklusionsprozesse erforscht. Politikwissenschaftliche Ansätze – etwa aus der normativen Governance-Forschung und Demokratietheorien – wurden aber bisher kaum auf grenzüberschreitende Kooperationsprozesse tiefgehend angewandt. Meine Arbeit kann daher als innovativer Beitrag zu den Grenzraumstudien betrachtet werden. Sie ist die erste umfangreiche Studie, die den aktiven institutionell-euroregionalen Einbezug von zivilgesellschaftlichen und bürgerschaftlichen Akteuren als „partizipative Governance“ untersucht.
Sie untersuchen die Zusammenarbeit an verschiedenen EU-Binnengrenzen. Inwiefern wird jeweils die Zivilgesellschaft beteiligt?
Ich untersuche insgesamt vier grenzüberschreitende Regionen in der EU: Den deutsch-polnischen, deutsch-französischen, österreichisch-italienischen und spanisch-portugiesischen Grenzraum. Dabei lege ich den Fokus auf die zivilgesellschaftliche Beteiligung an den grenzüberschreitenden Institutionen. Die sogenannte „partizipative Governance“ an diesen „Europäischen Verbünden für territoriale Zusammenarbeit“ (EVTZ) fällt laut meiner Beobachtung sehr unterschiedlich aus. Häufige Bürgerbeteiligungen finden über die Prozesse und Strukturen statt, z.B. über den Akteurseinbezug in thematischen Arbeitsgruppen. Konsultationen der Zivilgesellschaft konnten eher in einmaligen und langfristigen Planungsprozessen identifiziert werden – etwa bei Bürgerforen zur Erarbeitung von mehrjährigen Handlungsplänen. In einer Grenzregion war die zivilgesellschaftliche Partizipation besonders stark entwickelt, da Bürger*innen hier sowohl an Strukturen, Prozessen als auch Inhalten signifikant beteiligt waren. Als dafür förderlich erwiesen sich in meiner Studie bestimmte geopolitische und soziokulturelle Faktoren in der Grenzregion. Aktuell wird dort ein erster euroregionaler Bürgerrat vorbereitet.
Was muss unternommen werden, um das bürgerliche Engagement in der grenzüberschreitenden Kooperation weiter zu stärken?
Festzuhalten ist, dass Zivilgesellschaft und Bürgerschaft in fast allen grenzüberschreitenden Räumen und Institutionen – wie Euroregionen oder EVTZ – in politische Prozesse einbezogen werden. Dass der Partizipationsgrad im Vergleich variiert, kann mit geopolitischen und soziokulturellen Faktoren oder der räumlichen Beschaffenheit einer Region erklärt werden. Grundsätzlich ist aber der grenzüberschreitende Austausch relevant, wie etwa bei euroregionalen Begegnungstreffen. Wie genau der Einbezug von Bürgerschaft und Zivilgesellschaft gestärkt werden kann, hängt auch von den Bedarfen, Möglichkeiten und vom politischen Willen der öffentlichen Autoritäten ab. In diesem Zusammenhang habe ich festgestellt, dass zunehmend Bürgerdienste grenzüberschreitend eingerichtet werden; das heißt Kooperationen in Bildung, Gesundheit, Verkehr etc. Ich denke, dass dieses Thema der sogenannten Daseinsvorsorge in den untersuchten Grenzregionen und darüber hinaus zukünftig wichtiger wird. Gerade die Corona-Pandemie hat zuletzt gezeigt, wie relevant, aber auch wie verletzlich grenzüberschreitende Infrastrukturen und Dienstleistungen – etwa im Gesundheitssektor – sind.
Biographische Notiz und Kontakt
Dr. Peter Ulrich ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung und am Fachgebiet Regionalplanung der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg. Er ist Mitglied des Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION, in dem er sieben Jahre geforscht und gelehrt hat. Peter Ulrich wurde im Jahr 2019 an der kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) promoviert. Das Buch ist die überarbeitete Fassung seiner Dissertationsschrift.
E-Mail: peter.ulrich at leibniz-irs.de
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