Leben im transnationalen Alltag

Frau Müller, in Ihrem aktuellen Buch beschäftigen Sie sich mit international mobilen Hochqualifizierten und ihren Ortsbindungen. Was macht dieses Thema so herausfordernd?

Für mich als Forscherin ist das Herausfordernde gerade die Mobilität dieser Menschen. Ich bin also viel gereist. Außerdem ist es für eine Forschung, die auf Mobilität und Ortsbindungen schauen will, schwierig, die Menschen vor Ort zu erleben – und nicht etwa, wenn sie Umzüge planen. Und für die Hochqualifizierten ist das Thema herausfordernd, weil sie im Hier – vor Ort, im Alltag – immer auch an das Dort – frühere Lebensorte, entfernt lebende Familienangehörige und Freunde – denken. Sie balancieren also ständig zwischen Mobilität und Immobilität.

Die Interviewpartner*innen gewähren Ihnen tiefe Einblicke in ihre Biographien. War es einfach, sie für Ihre Forschungsfragen zu gewinnen und wie trifft man eigentlich ständig mobile Menschen?

Viele Menschen freuen sich, anderen von sich zu erzählen. Und da ich selbst in einem sehr mobilen Umfeld arbeite, der Universität, habe ich schnell interessierte Personen gefunden. Über sie bin ich dann an andere Gesprächspartner*innen gekommen. Außerdem haben mir Freunde geholfen, die in globalisierten Bereichen der Privatwirtschaft und der Kulturinstitutionen arbeiten. Das half mir, auch mit Personen in diesen Bereichen sprechen zu können. Denn ich wollte erfahren, welche Unterschiede es zwischen Menschen mit unterschiedlicher beruflicher Ausrichtung gibt. Und ich kann sagen: Die Unterschiede und Ähnlichkeiten hängen weniger von Berufen als vielmehr von Lebensvorstellungen ab.

Anna-Lisa Müller (2020): Migration, Materialität und Identität: Verortungen zwischen Hier und Dort. (Sozialgeographische Bibliothek, Bd. 21). Stuttgart, Franz Steiner Verlag. mehr Info

In Ihrem Buch untersuchen Sie auch die Bedeutung von Objekten in Migrationsprozessen. Warum haben Sie diese materielle Dimension berücksichtigt?

Meine erste Interviewpartnerin hat mich auf das Thema gebracht. Sie kommt aus Japan und wohnt heute in Deutschland. Davor lebte sie in Mexico und Thailand, kehrte zwischendrin für einige Jahre nach Japan zurück. Sie hat bei ihren Umzügen also weite Strecken überwunden. En passant erwähnte sie, dass sie immer mit einem Koffer und ihrem Cello gereist sei. Da wurde ich hellhörig, denn ein Cello mitzunehmen ist organisatorisch und finanziell herausfordernd. Als sie erklärte, wie wichtig ihr Cellospielen sei und wie bedeutsam das Musizieren mit anderen für ihr Wohlbefinden vor Ort und für ihr Gefühl von Zugehörigkeit und Ortsbindung sei, habe ich auch meine anderen Interviewpartner*innen nach Objekten gefragt. Und bei allen gab es vergleichbare Objekte.

Sie kommen zu dem Ergebnis, dass international mobile Hochqualifizierte „rhizomatische Identitäten“ entwickeln. Was kann man sich darunter vorstellen?

Ich borge hier einen Begriff der Philosophen Gilles Deleuze und Felix Guattari. Ein Rhizom besteht aus zahlreichen Verbindungen, hat aber keinen festen Kern. Eine rhizomatische Identität ist eine, die sehr veränderlich ist. Ich habe festgestellt, dass einige der Interviewten sich als Menschen mit vielen unterschiedlichen Facetten verstehen. Je nachdem, welche Facetten gerade stärker schillern, sind sie etwas andere Persönlichkeiten. In einem vertrauten Umfeld ist es dann aber nicht so einfach, eine veränderte Persönlichkeit mit dem bekannten Setting zu vereinbaren und mit den Rollen, die man seit langer Zeit hat, etwa als Arbeitskollegin oder Nachbarin. Leichter ist es, an einen Ort zu kommen, an dem einen niemand oder kaum jemand kennt. Man hat dann quasi die Chance neu zu beginnen. Diejenigen, die wiederholte Mobilität als etwas Positives schätzen und sich freuen, an neuen Orten immer neue Dinge zu lernen sind häufig Menschen mit rhizomatischen Identitäten.

Sie schließen Ihr Buch mit einem Plädoyer für eine Migrationsforschung, die stärker auf die Hybridisierung der Gesellschaften abheben sollte. Was ist von einem solchen Fokus zu erwarten?

Wir können damit die gegenseitige Beeinflussung von räumlichen und sozialen Verhältnissen noch besser berücksichtigen. Die Personen, die ich interviewt habe, kennen viele Lebensformen, Wohnorte, Arbeitsumfelder und insgesamt verschiedene Weisen, gesellschaftliches Zusammenleben zu organisieren. Sie wissen, dass das Alltagsleben immer auch anders organisiert werden könnte. Das gleiche gilt für den beruflichen Alltag und das Zusammenleben mit Nachbarn und Freunden. Wenn wir ernst nehmen, dass heute eigentlich alle Menschen Wissen von anderen Orten haben, dann sind die Erfahrungen, die Migrant*innen machen, dem eigenen Leben gar nicht mehr so fern. Auch wir, die wir vielleicht immer am selben Ort leben, haben unsere Mitmenschen und Objekte, die uns ein Gefühl der Zugehörigkeit vor Ort geben.

Gleichzeitig kennen wir Menschen woanders, machen Reisen an andere Orte, haben auf unserem Nachttisch eine Muschel als Andenken von einer Urlaubsreise liegen. Wir balancieren also letztlich alle zwischen Hier und Dort und sind uns dahingehend weltweit sehr ähnlich. Aber natürlich unterscheiden sich auch alle Orte, ebenso wie ich selbstverständlich anders als meine Arbeitskollegin bin. Die Hybridisierung der Gesellschaften ist ein Sowohl als Auch von Ähnlichkeiten und Unterschieden. Allerdings verlaufen die Trennlinien nicht entlang nationalstaatlicher Grenzen oder zwischen mobilen und ortsfesten Menschen, sondern entlang biographischer Erfahrungen, Lebensorte, Lebensstile und Wertvorstellungen.

Biographische Notiz

Dr. habil. Anna-Lisa Müller ist Geographin und Soziologin. Ihre Schwerpunkte liegen in der Stadt- und Migrationsforschung. Anna-Lisa Müller studierte Soziologie, Philosophie und Neuere Deutsche Literatur. 2013 wurde sie an der Universität Bielefeld mit der Arbeit „Green Creative Cities“ promoviert und 2019 am Institut für Geographie an der Universität Bremen habilitiert.

Kontakt

E-Mail anna-lisa.mueller[@]uni-osnabrueck.de
Web www.annalisamueller.de
Twitter @annalytika