Zur Kunst des Anfangens
Frau Bendheim, in Ihrem aktuellen Buch beschäftigen Sie sich mit Erzählanfängen früher und heute. Was macht dieses Thema so spannend?
Der Erzählanfang oder der Rahmen, der das eigentlich Erzählte umgibt, bestimmt die Lektüre von Literatur maßgebend – sowohl heute als auch schon im Mittelalter. Der Erzählanfang ist wie eine ‚Duftmarke‘ zu verstehen, er macht ein erstes Versprechen und beeinflusst die Rezeption des Erzählten. In meinem Buch will ich zeigen, welche Vorstellungen von Welt sich hinter Erzählanfängen und Rahmengestaltungen verbergen, wie sie sich in der Zeit unterscheiden und wie Wissen durch Literatur vermittelt wird. Denn Erzählanfänge sind nicht nur literaturwissenschaftlich interessant, sie geben vor allem Hinweise darauf, wie die Welt gesehen wird. Umso spannender ist es Erzählanfänge zu analysieren und das Bewusstsein für ihre Konstruiertheit zu schärfen.
Erzählanfänge sind für viele kein geläufiges Thema. Wie sind Sie zu dem Thema gekommen?
Mir selbst erschienen mittelalterliche Textanfänge ziemlich langweilig, auch die vorangestellten Prologe in ihrer Lehrhaftigkeit fand ich eher ermüdend. Ich habe daher immer gerätselt, wie man mit so einem Einstieg die Zuhörer für seine Erzählung begeistern konnte – gerade damals in der mittelalterlichen Kultur. Schließlich wurde hier noch meist mündlich vorgetragen, d.h. das Publikum konnte die ersten Seiten nicht einfach überblättern und auf einem Hoffest wanderte es sicher schnell weiter zum nächsten Met-Stand. Dass diese – zunächst naheliegende – Vorstellung nicht ganz zutreffend ist, habe ich gemerkt als ich der Frage auf den Grund gegangen bin.
Worin unterscheiden sich denn mittelalterliche und moderne Erzählanfänge?
In meinem Buch konzentriere ich mich auf den mittelalterlichen Roman, weil er aus heutiger Sicht besonders fremd und unzugänglich erscheint. Erzählrahmen waren damals ungeheuer komplex, wuchtig und ausufernd, während moderne Romane den Leser geradezu unmittelbar und unwissend in die Geschichte hineinwerfen. ‚Ilsebil salzte nach’ – der Beginn des Romans „Der Butt“ von Günther Grass – ist ein sehr bekanntes Beispiel dafür. Ein Erzählanfang übrigens, der jüngst zum schönsten ersten Satz in der deutschen Literatur prämiert wurde.
Sie sprechen in Ihrem Buch aber auch von Gemeinsamkeiten zwischen mittelalterlichen und modernen Texten. Wo sehen Sie Parallelen?
Meine Analysen zeigen, dass der äußere Rahmen von mittelalterlichen Texten optional wechselt, er flexibel und variabel an den jeweiligen Gesprächskontext angepasst werden kann. Er besitzt also eine gewebeartige Struktur und ist kein feststehendes Textgebilde. Daher ist uns der mittelalterliche Text viel vertrauter als oft angenommen. Denn gerade im digitalen Zeitalter zeichnen sich Texte nicht durch Festigkeit aus, vielmehr durch eine gewisse Elastizität.
Welchen Beitrag leistet Ihre Forschung für die aktuelle Forschungsdebatte?
Von meinen Ergebnissen können Impulse ausgehen für die Untersuchung dessen, was den Rezipienten auf das Romangeschehen einstimmt. Dieses Feld der sogenannten Paratextforschung sollte sich öffnen für neue theoretische Konzepte, die mediale Formen und ihre Funktionen auch jenseits der Buchkultur fassen können. In meinem Buch mache ich dafür den Begriff der paratextuellen Elemente stark. Außerdem sollte die Ähnlichkeit von mittelalterlichen und modernen Romanen stärker zur Kenntnis genommen werden – etwa wenn sich Paratextuelles auch im mittelalterlichen Roman nicht nur im traditionellen Prolog findet und der ‚Handlungsfaden’ an verschiedene Stellen an den Prolog oder an die Vorgeschichte anknüpft.
Und zum Schluss: An wen richtet sich Ihr Buch?
Ich denke, mein Buch gibt generell Impulse zur Diskussion des Anfangs, besonders aber für drei Personenkreise: Zunächst für jene, die noch keine mittelalterlichen Romane durchgelesen haben, da sie das Werk nach dem Prolog vermutlich frustriert beiseitegelegt haben. Außerdem ist die Lektüre des Buchs für alle Anfangskünstler spannend, die den Anfang erfolgreich ‚bezwungen‘ haben – ich denke dabei an Autoren wie den genannten Günther Grass, an Max Frisch in „Stiller“ oder Albert Camus in „Der Fremde“, aber auch an mittelalterliche Dichter wie Wirnt von Grafenberg. Und schließlich gibt das Buch jenen Inspiration, die den Anfangskampf verloren haben – Albert Camus spricht in „Die Pest“ von so einem Gescheiterten, der an der Suche nach dem idealen ersten Satz verzweifelt.
Biographische Notiz
Dr. phil. Amelie Bendheim lehrt und forscht als wiss. Mitarbeiterin am Institut für deutsche Sprache, Literatur und für Interkulturalität an der Universität Luxemburg. Sie hat binational in Mainz und Luxemburg promoviert und arbeitet im Bereich der Erzähltheorie, historischen Semantik, Wahrnehmungs-/Bildtheorie sowie der Interkulturellen Mediävistik. Nach dem Studium der Romanistik und Germanistik für das Lehramt an Gymnasien (Mainz/Dijon) war sie als Lehrbeauftragte an der Universität in Mainz sowie als wiss. Assistentin an der Universität Luxemburg tätig.
Kontakt
amelie.bendheim at uni.lu