Identitäten und Stereotype in der Großregion
Frau Schönwald, Sie haben über Identitäten und Stereotype in grenzüberschreitenden Verflechtungsräumen geforscht. Was macht dieses Thema mit Blick auf die Großregion spannend?
Bei der Großregion handelt es sich mit über elf Millionen Einwohnern auf 65.400 km2 nicht nur um eine sehr große Region, sondern in vielerlei Hinsicht auch um einen sehr heterogenen Verflechtungsraum: Er vereint Teilregionen aus vier verschiedenen Nationalstaaten, die Bewohner sprechen drei verschiedene Sprachen und auch das wirtschaftliche Gefälle sollte nicht unterschätzt werden. In der heutigen Zeit, in der sich die Bedeutung der Nationalstaaten verändert und neue Aufgaben für Regionen entstehen, war es am Beispiel dieses Grenzraums besonders interessant zu untersuchen, wie sich Identitäten konstruieren. Die Untersuchung von Stereotypen ist dabei ein wichtiger Teilaspekt, da der Prozess der (Selbst-)Identifikation immer auch an Außenwahrnehmung und somit auch an Stereotype geknüpft ist.
Sie haben in ihrem Buch grenzüberschreitendes Akteurshandeln untersucht. Kann man sagen, dass die Akteure eher Identitäten konstruieren oder werden sie eher beeinflusst von Identitätsangeboten?
Ich habe eine sehr bunte Auswahl an Akteuren befragt – sowohl was ihre Herkunft als auch was ihr Arbeitsgebiet in der Großregion betrifft. Somit waren die Befragten auch von sehr unterschiedlichen Identitätsangeboten beeinflusst und haben diese jeweils mit eigenem Leben gefüllt. Die Frage lässt sich somit nicht eindeutig beantworten. Denn einerseits orientieren sich die Akteure an bestehenden Identitätsangeboten, andererseits eignen sie sich diese subjektiv an. Zum besseren Verständnis möchte ich ein Beispiel nennen: Das Ereignis der Kulturhauptstadt ‚Luxemburg und die Großregion 2007‘ kann als Versuch eines Identitätsangebotes von oben gewertet werden, andererseits entwickelten die in diesem Kontext arbeitenden Akteure jeweils sehr verschiedene eigene Vorstellungen, was die Großregion und die Kultur der Großregion für sie bedeutet. Durch ihre Erfahrungen und Erlebnisse, die sie während der Arbeit aktiv sammeln, konstruieren sie sehr vielfältige Identitätsbausteine. Da Identitäten niemals fertig entwickelt, sondern immer nur vorläufig sind, können Identitätsangebote niemals mehr als Angebote sein, die jeder für sich selbst ausfüllt und verändert.
Für Ihre Forschung haben Sie grenzüberschreitend tätige Akteure getroffen. Waren Ihre Gesprächspartner immer offen für Identitätsfragen und was hat Sie überrascht?
Meine Gesprächspartner haben mir sehr offen von ihren Tätigkeiten in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit berichtet. Beim Thema Identität fiel auf, dass in den Köpfen der Befragten die nationale Identität als Idealtyp einer Identität verankert ist. Nach diesem Vorbild können sie sich keine großregionale Identität vorstellen. Das Festhalten an nationalstaatsähnlichen Gebilden trübt aber den Blick für weitere Identitätskomponenten, die über Grenzen hinweg bestehen.
Wie haben Sie Identitäten und Stereotype in ihrem Buch untersucht? Kann man Identitäten eigentlich messen?
Man kann Identitäten nicht quantitativ messen. Für meine Studie habe ich eine qualitative Herangehensweise gewählt, wodurch die Akteure sehr offen von ihren Erfahrungen und Gefühlen in der großregionalen Zusammenarbeit berichten konnten. Diese Berichte habe ich dann analysiert und interpretiert. Ich habe jedoch keine Identitäten gemessen.
Konnten Sie bei den Akteuren eine großregionale Identität feststellen? Welche Kategorisierungen waren dafür relevant?
Eine großregionale Identität, wie man sie von Nationalstaaten kennt, konnte ich bei den Akteuren nicht feststellen – ein Ergebnis, das nicht überraschte. Jedoch waren andere Identitätstypen – bei jedem Akteur in unterschiedlicher Ausprägung – erkennbar. Dazu zählt beispielsweise der Typ „Subidentität europäischer Identität“. Das bedeutet, dass viele Akteure sich mit der Großregion als Modellregion für Europa identifizieren. Ein weiterer wichtiger Faktor, der bei vielen Akteuren zu einer kontextbezogenen Identifikation führt, ist der Mehrwert der Großregion – sei er kultureller, wirtschaftlicher oder anderer Natur.
Biographische Notiz
Dr. Antje Schönwald, Studium der Europäischen Ethnologie/Kulturwissenschaft, Friedens- und Konfliktforschung und Spanisch an der Philipps-Universität Marburg und der Universidad de Extremadura in Cáceres/Spanien. Promotion in Anthropogeographie an der Universität des Saarlandes. Seit 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Stiftungslehrstuhl Nachhaltigkeitswissenschaft an der Universität des Saarlandes.
Kontakt
a.schoenwald(at)mx.uni-saarland.de