Grenzforschung
Herr Gerst, Frau Klessmann und Herr Krämer, Sie haben das erste deutschsprachige Handbuch für Grenzforschung herausgegeben. Was hat Sie dazu veranlasst?
Die Erforschung von Grenzen hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Aber anders als in den USA oder UK, wo sich seit den 1980er-Jahren die Border Studies konstituiert haben, fehlt es im deutschsprachigen Raum bisher an einer fundierten Zusammenführung verschiedener Perspektiven auf Grenzen. Dieser Mangel ist uns auch in der eigenen Forschungsarbeit deutlich geworden. Zudem sind seit dem Erscheinen der letzten beiden, groß angelegten englischsprachigen Überblickswerke ca. zehn Jahre vergangen. In der Zeit hat sich die Grenzforschung weiter ausdifferenziert. So hat sich bei uns die Idee gefestigt, eine Bestandsaufnahme der Grenzforschung auch einer deutschsprachigen Lesendenschaft zugänglich zu machen. Das Buch kommt, wie wir finden, zur rechten Zeit, in der Grenzen vermehrt ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken.
Mit dem Buch decken Sie ein breites Spektrum der Grenzforschung ab. Was war Ihnen bei der Themenzusammenstellung wichtig?
Uns war es besonders wichtig, die interdisziplinäre und thematische Vielfalt der Grenzforschung abzubilden. So versammelt das Handbuch Konzepte und Perspektiven der eher klassischen polit-geografischen Grenzforschung, etwa Untersuchungen zu Grenzregionen oder zur grenzüberschreitenden Kooperation, aber auch sozial- und kulturwissenschaftliche Zugänge wie zum Beispiel zu Grenzregimen und Phänomenen des Transnationalismus. Ein beträchtlicher Teil des Buches widmet sich diversen „Grenzrelationen“, die die gegenwärtige Gestalt von Grenzen bestimmen. Manche von ihnen, wie der Zusammenhang von Grenze und Migration, Sicherheit oder generell dem Staat sind gut erforscht. Andere, wie die Ästhetik, die Technologisierung der Grenze oder auch das Verhältnis von Border Studies und Gender Studies rücken erst seit Kurzem in den Fokus. Damit bietet das Buch einen guten Einstieg, um die Komplexität gegenwärtiger Grenzen erfassen zu können.
Welche Aspekte der Grenzforschung sind Ihrer Meinung nach bei der ersten Auflage noch zu kurz gekommen?
Wie es wohl mit solchen groß angelegten Projekten immer ist, sind einige unserer Ideen auf der Strecke geblieben. Sehr interessiert wären wir etwa an einer Geschichte der Grenzforschung gewesen, die eine dominant eurozentrisch-westliche Perspektive ergänzt und hinterfragt. Auch hätten wir gerne noch mehr Akzente im Bereich Körper und Materialität gesetzt. Ebenso die Themen Konflikt und Gewalt hätten stärker vertreten sein können. Aber wer weiß: vielleicht können wir für eine überarbeitete Auflage noch einmal nachlegen.
Das Buch umfasst Beiträge von 41 Autor:innen. Wie schwer war es, immer die geeigneten Expert:innen zu finden und für die Publikation zu gewinnen?
Im Rahmen unserer Arbeit am Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION, welches die Arbeit am Buch großzügig gefördert hat, haben wir in den letzten Jahren ein tolles Netzwerk an Grenzforschenden aus verschiedenen Bereichen knüpfen können. Das hat uns geholfen, potentielle Autor:innen zu finden. In den meisten Fällen wussten wir auf Anhieb, wen wir fragen möchten, manchmal musste der Anfrage eine Recherche voran gehen und manchmal haben wir natürlich auch Absagen bekommen. Mit diesen Absagen erhielten wir aber oft sehr hilfreiche Tipps, wer infrage käme für das Thema – auch, weil viele ein solches Handbuch für längst überfällig hielten und das Projekt auf diese Weise unterstützen wollten. Besonders gefreut hat uns aber, dass wir viele Wunschautor:innen tatsächlich gewinnen und darüber hinaus viele neue Kolleg:innen kennenlernen konnten.
Inwiefern hebt sich Ihr Handbuch von den schon bekannten englischsprachigen Überblickswerken ab?
Das Handbuch richtet sich gleichermaßen an Wissenschaftler:innen wie auch Studierende und stellt in erster Linie ein generelles Orientierungswissen bereit. Wir haben uns darum bemüht, dem Buch deutlich den Charakter eines Nachschlagewerks zu geben. In den Beiträgen werden deshalb nicht einzelne Studien präsentiert, sondern der gegenwärtige Kenntnisstand zu einem Thema systematisch zusammengefasst – natürlich aus der jeweiligen (disziplinären) Perspektive des:der Autor:in. Dass wir Autor:innen aus vielen verschiedenen Disziplinen versammeln konnten, stellt mit Sicherheit einen weiteren Unterschied zu den bisherigen Überblickswerken dar. Im letzten Buchteil wiederum finden sich freiere Textformen wie etwa Übersetzungen von Buchkapiteln und Essays sowie ein Interview mit international renommierten Grenzforschenden, womit wir dezidiert eine Brücke zur anglo-amerikanischen Grenzforschung schlagen. Kurz: unser Handbuch soll die guten und ja nach wie vor aktuellen Kompendien der Border Studies nicht ersetzen, sondern um neue und bisweilen systematischere Perspektiven ergänzen.
Biographische Notiz und Kontakt
Dominik Gerst ist Soziologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Duisburg-Essen. Er studierte Soziologie und Deutsche Philologie in Göttingen und promoviert an der Europa-Universität Viadrina zum Grenzwissen im deutsch-polnischen Sicherheitsfeld.
E-Mail: dominik.gerst at uni-due.de
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Maria Klessmann ist Kulturwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder). Sie studierte Kulturwissenschaften und Soziokulturelle Studien in Frankfurt (Oder) und Rom und promoviert an der Viadrina zu Ethnisierungs- und Grenzziehungspraktiken in Gesprächen.
E-Mail: klessmann at europa-uni.de
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Hannes Krämer ist Soziologe und Professor für Kommunikation in Institutionen und Organisationen an der Universität Duisburg-Essen. Vorher war er Forschungsgruppenleiter und wissenschaftlicher Koordinator am Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION.
E-Mail: hannes.kraemer at uni-due.de
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